Stirb leise, mein Engel
Nach schier endlos langer Zeit schwebte ein glänzender, weißer Sarg mit einem Blumengesteck obendrauf ins Freie. Wie hypnotisiert starrte er das polierte Ding an. Obwohl er es eigentlich gar nicht sehen wollte; und nicht daran denken, was sich in ihm drin befand. Scheiße, warum?! Warum muss alles so sein, wie es ist? Das Knirschen von Rädern auf dem Untergrund erinnerte ihn daran, dass der Sarg nicht wirklich schwebte, sondern auf einem Gefährt ruhte, das von vier Sargträgern geführt und gelenkt wurde. Er drückte das Glitzerherz in seiner Jackentasche und zwang sich, wieder zu atmen. Ein – aus; ein – aus … Es wurde besser. Leichter.
»Bist du okay?« Diese Mareike. Die war ja auch noch da. Und jetzt war er sogar irgendwie froh darüber.
»Alles bestens.«
Der Trauerzug formierte sich. Hinter dem Sarg ging ein Grabredner, dann kamen die Eltern. Sascha musste bei ihrem Anblick an geknickte Bäume denken.
»Das eigene Kind begraben zu müssen ist echt krass«, sagte er. »Die Eltern können einem leidtun.«
»Absolut.«
Schweigend betrachteten sie den Trauerzug, der sich nun zum Grab aufmachte. Gerade, als er sich halb dazu überwunden hatte, den anderen zu folgen, sagte Mareike: »Ich geh da nicht mit. Ist mir zu heftig.«
Er sah sie an. Kein Zweifel, keine Unsicherheit war in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie wollte nicht mit, also blieb sie. Darin war sie tausendmal ehrlicher als die ganzen Heuchler, die brav hinter dem Sarg herliefen. Allerdings fragte er sich, wieso sie dann überhaupt gekommen war, wenn sie weder an der Trauerfeier noch an der Beisetzung teilnahm.
Gemeinsam verfolgten sie, wie der Zug zwischen den Grabsteinen verschwand. Dann fragte Mareike: »Stimmt es eigentlich, dass Natalie zuletzt einen Lover hatte?«
Sascha nickte. »Tristan. Sie hat ein Riesengeheimnis daraus gemacht. Keine Ahnung, warum.«
»Aber dir hat sie’s erzählt.«
»Was heißt erzählt. Ich hab sie zufällig mit ihm gesehen, und als ich wissen wollte, wer das war, ist ihr der Name rausgerutscht.«
»Du hast ihn gesehen?«
»Nicht richtig. Sie waren ziemlich weit weg. Eigentlich war alles, was ich gesehen hab, seine Baseballmütze.«
»Ach so.«
»Warum fragst du?«
»Nur so.«
Für ein »Nur so« war die Frage zu gezielt gekommen, fand er. Aber egal, was kümmerte es ihn.
Mareike nahm noch eine Zigarette aus ihrem Etui und zündete sie an. »Du warst in Natalie verknallt, oder?«
»Ich? Wieso? Hat sie was über mich gesagt?«
»Stimmt doch? Kannst es ruhig zugeben.«
Sascha atmete tief durch. Das alles war so unendlich weit weg und doch so schmerzlich nah. »Keine Ahnung«, sagte er, »vielleicht ein bisschen.«
Er musste daran denken, wie sie im Geräteraum auf den Turnmatten gesessen hatten. Wenn er jemals richtig in Natalie verliebt gewesen war, dann in diesen Minuten. Irgendwie hatte ausnahmsweise mal alles gepasst. Zumindest für ihn. Bei ihr hatte man das nie so genau gewusst. Wahrscheinlich hatte sie da schon längst die Absicht gehabt, sich was anzutun. Nach allem, was er inzwischen über sie erfahren hatte, war Selbstmord seit Jahren ein Thema bei ihr gewesen. Dann kam Tristan. Und jetzt war sie tot. Er kapierte es einfach nicht.
»Bist du wirklich okay?« Mareike streckte die Hand nach ihm aus, berührte ihn aber nicht.
»Klar.«
Sie schnippte ihre Kippe weg. »Ich muss langsam los. Ob man hier wohl ein Taxi kriegt?«
»Taxi? Wieso? Hier ist doch gleich die U-Bahn.«
»Nein, danke. Eigentlich fahre ich Motorroller, aber leider hab ich das Ding vor Kurzem geschrottet. Shit happens.«
»Vielleicht stehen an der Haltestelle ja auch Taxis.«
Gemeinsam verließen sie den Friedhof. Sie mussten nicht bis zur U-Bahn laufen, schon nach Kurzem kam ihnen ein Taxi entgegen. Mareike winkte auf eine Art, wie er es schon tausendmal in amerikanischen Filmen gesehen hatte. Er musste zugeben, dass das ziemlich cool rüberkam. Das Auto bremste ab und blieb am gegenüberliegenden Bordstein stehen. »Gibst du mir deine Handynummer?«
»Äh … Klar. Warum nicht?« Ihre Frage irritierte ihn. »Hast du was zu schreiben?«
»Brauch ich nicht. Ich hab ein gutes Zahlengedächtnis.«
Sascha nannte ihr die Nummer. »Und wie ist deine?«, fragte er, als sie schon wegwollte.
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich was von dir will, ruf ich dich an. Wenn nicht, hat’s ohnehin keinen Sinn, mich anzurufen.«
Noch ein kleines Lächeln, dann lief sie über die Straße und stieg ins Taxi. Sie hob die Hand, ein
Weitere Kostenlose Bücher