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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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Gründe: zum einen natürlich wegen Natalie – und dann, weil er gehofft hatte, er werde Tristan begegnen. Er brannte darauf, ihn endlich aus der Nähe zu begutachten. Doch wie sollte er ihn hier finden? Die giftgrüne Baseballmütze würde er heute vermutlich nicht aufhaben, und sehr viel mehr hatte Sascha damals nicht von ihm gesehen.
    Ein Mann – vielleicht ein Friedhofsangestellter, vielleicht auch nur ein Trauergast – trat aus der Aussegnungshalle und bat die letzten Ankömmlinge nach drinnen, schaute schließlich auch zu Sascha herüber. Da er sich nicht regte, schloss der Mann die Türen, und er blieb allein zurück.
    Unschlüssig kickte er ein paar Steinchen weg. Am liebsten wäre er nach Hause gefahren. Aber den Sarg sollte er doch zumindest gesehen haben, zum letzten Abschied. Vielleicht würde er sogar mit ans Grab gehen. Er konnte Androsch noch immer nicht ganz verzeihen, dass er sich dieser Verpflichtung einfach entzog. Wovor hatte er Angst?
    Nach längerer Stille drang aus dem Innern Musik ins Freie: Rihanna und Eminem mit
Love the Way You Lie
. Natalies Lieblingssong. Das war dann doch ein bisschen heftig. Der Hals wurde ihm eng; die Brust. Er fiel auf eine Bank, seine Faust drückte das Glitzerherz, sein Blick ging starr zu Boden. So eine Scheiße, dachte er, warum hast du das bloß getan, Natalie? Ich hab geglaubt, du bist glücklich mit deinem Tristan. Wieso –
    »Traust du dich auch nicht rein?«
    Sascha erschrak. Er hatte das fremde Mädchen nicht kommen hören. Und er wünschte, sie würde genauso still und leise gleich wieder verschwinden. Aber das tat sie nicht.
    Sie war ungefähr in seinem Alter und ziemlich gestylt für so einen Anlass. Und obwohl es ein grauer Novembertag war, trug sie eine Sonnenbrille. Sollte man ihre verheulten Augen nicht sehen? Oder wollte sie bloß cool wirken?
    »Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«
    Ehe er ablehnen konnte, saß sie schon neben ihm und schlug die schlanken Beine übereinander. Bei jeder Bewegung klackerten an ihrem Handgelenk goldene Armreifen. Natürlich würde es nicht beim Sitzen und Beine-Übereinanderschlagen bleiben. Sie würde anfangen zu quatschen. Würde Fragen stellen und Dinge über Natalie erzählen und erwarten, dass auch er etwas erzählte. Und er würde die ganze Zeit dasitzen, sich an den albernen Schlüsselanhänger in seiner Hand klammern und hoffen, dass sie endlich ging und ihn in Ruhe ließ.
    Doch erst mal geschah nichts, außer dass Stille eintrat, nachdem der Song verklungen war. Sascha konnte also wieder ungestört Kieselsteine auf dem Boden anstarren. So lange, bis sie ihre Sonnenbrille ins Haar schob, ihre kein bisschen verheulten Augen zeigte und sagte: »Schon heftig, das mit Natalie, oder?«
    Okay, dachte er, jetzt geht’s los, und nickte.
    »Kanntest du sie gut?«
    »Nicht wirklich.«
    »Du hast recht. Wann kennt man einen anderen schon?«
    Das war nicht unbedingt das, was er gemeint hatte.
    »Wie heißt du?«
    »Sascha.«
    »Oh, alles klar. Ich bin Mareike.«
    Anscheinend hatte Natalie ihr von ihm erzählt. Oder von ihnen beiden. Wahrscheinlich davon, dass es zu nichts geführt hatte. Vielleicht hatte sie die Schuld auf ihn geschoben. Vielleicht war er ja auch schuld. Jedenfalls war es megapeinlich. Deshalb fragte er lieber nicht nach, und sie sagte auch nichts mehr. So saßen sie eine ganze Weile nur da.
    In der Trauerhalle begann erneut Musik, wieder Rihanna, diesmal
Unfaithful
. Mareike zog ein silbernes Etui und ein Feuerzeug aus der Jackentasche, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. »Sorry«, sagte sie, »willst du?« Er schüttelte den Kopf.
    Schweigend rauchte sie ihre Zigarette, an deren Filter sich Spuren ihres dunkelroten Lippenstifts abzeichneten.
    »Wie lange das wohl dauert?«, fragte Sascha irgendwann.
    »Bestimmt nicht mehr lange.«
    »Ach ja? Woher willst du das wissen?«
    »Natalie hat es mir erzählt.«
    »Wie bitte?«
    »Sie hat dauernd über so Zeug geredet. Wie sie sterben will und wie alles ablaufen und aussehen soll und so. Keine langen Reden, hat sie gesagt, nur ein paar Songs von Rihanna, mehr nicht.«
    »Ihr wart euch wohl ziemlich nah.«
    »Nicht wirklich.«
    »Zu mir hat sie so was nie gesagt.«
    Die Musik endete.
    »Jetzt dürfte gleich der Sarg kommen.« Mareike warf die Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus.
    Sascha erhob sich und schaute nervös zum Eingang der Aussegnungshalle, wo gerade die beiden Flügeltüren aufgeschoben wurden.

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