Stirb leise, mein Engel
und dann ist sie total fertig. Und an ihren freien Tagen … Keine Ahnung, da passt es irgendwie auch nie, da wäscht und putzt sie, wenn sie nicht gerade wieder unterwegs ist, oder sie schläft den halben Tag.«
»Und wenn du alles aufschreibst? In einer Art Brief für sie?«
Sascha atmete schwer. Den letzten Brief an seine Mutter hatte er geschrieben, da war er vielleicht sieben oder acht. Liebe Mama, alles Gute zum Muttertag. Ich hab Dich lieb. Dein Sascha. Er hatte keine Ahnung, wie man in seinem Alter an seine Mutter schrieb, ohne dass es peinlich wurde.
»Mal sehen«, sagte er schließlich.
»Du hast mir irgendwann erzählt, dass sie den Ehering nicht mehr trägt«, setzte Androsch nach kurzem, abwartenden Schweigen ein. »Wie kommst du inzwischen damit klar? Und mit der Vorstellung, dass vielleicht …, nun ja, ein anderer Mann …«
Sascha spürte, wie sich in seinem Bauch ein Knoten zusammenzog. »Also, erst mal: Sie trägt den Ring noch. Nur eben nicht am Finger, sondern an einer Kette. Und sonst … Keine Ahnung … Ich denke einfach nicht darüber nach.«
»Wenn du aber jetzt darüber nachdenkst, was geht dir dann durch den Kopf?«
Sascha überlegte. Er wusste nicht, was er dachte, nur, was er fühlte. Aber dann fiel ihm doch ein, was dieses dumpfe, pulsierende Gefühl in seiner Brust bedeutete. »Auch wenn’s egoistisch ist«, sagte er. »Ich will nicht, dass sie mit irgend so einem Typen was anfängt. Weil er nicht mein Vater wäre.«
»Ich glaube nicht, dass es deiner Mutter darum geht, deinen Vater zu ersetzen. Also, ich meine: ihren Ehemann.«
»Solange sein Platz frei bleibt, ist da noch was von ihm, und wenn es nur die Lücke ist, die er hinterlassen hat. Aber wenn da wieder jemand neben meiner Mutter ist, dann verschwindet Papa doch noch mal … und … für ganz.«
»Nicht für ganz, Sascha. Er ist ja noch woanders.«
»Wo denn?«
Androsch legte seinen Block zur Seite und neigte sich vor. »Ich schreibe ja für die Polizei manchmal Gutachten, und da ist mir dein Vater ab und zu begegnet, auf dem Präsidium oder bei Gericht. Und wenn ich dich so anschaue, dann sehe ich ihn in dir. Du ähnelst ihm wirklich sehr.«
»Das sagt meine Mutter auch.«
»Na, siehst du.« Androsch lächelte.
Sascha hatte keine Ahnung, was er dadurch sehen oder besser:
einsehen
sollte. Er ähnelte seinem toten Vater. Na und?
SASCHA NAHM DIE Stufen zum Bürgersteig hinab mit einem Satz. Dort blieb er stehen. Auf der anderen Straßenseite war Androschs Sohn. Mirko. Er saß rauchend auf der Motorhaube eines nachtblauen BMW und schaute zu ihm herüber. Wollte er was von ihm? Oder warum guckte er so? Sascha wandte den Blick ab und ging eilig weiter Richtung Bushaltestelle. Der Typ war ihm unheimlich. Außerdem hatte er eine Verabredung.
15
»DANN WOLLEN WIR mal«, sagte Joy nach einer kurzen Begrüßung und wandte sich der Klingelleiste zu. »Wie ist … war denn ihr Nachname?«
»Wagner. Natalie Wagner.« Erst jetzt, da sie sich umgedreht hatte, bemerkte Sascha den Blumenstrauß, der aus ihrem Rucksack ragte. An ein Mitbringsel hatte er gar nicht gedacht. Anscheinend war es doch kein Klischee, dass Mädchen in diesen Dingen die besseren Instinkte besaßen.
»Lass mich machen«, sagte er nun und drückte die Klingel. Es dauerte nicht lange, bis der Türöffner surrte. Der muffige Geruch im Treppenhaus war immer noch derselbe.
An der Wohnung mussten sie noch einmal läuten. Dann ging die Tür auf, und Natalies Mutter stand in einem braunen Kleid vor ihnen. Der Duft eines billigen, etwas zu reichlich aufgetragenen Deos stach Sascha in die Nase.
»Oh«, sagte sie, als sie den Strauß in Joys Hand sah, »sind die für mich?«
»Wir dachten, Sie würden sich über Blumen freuen. Mein Name ist übrigens Joy.«
Frau Wagner blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren. »Joy. So ein schöner Name. Ich hoffe, du bringst mir die Freude zurück ins Haus. – Kommt rein, kommt rein! Der Kaffee ist gleich durch. Die Kuchen hab ich nicht selbst gebacken, die sind aus der Konditorei. Ich stell erst mal die Blumen ins Wasser. Dort drüben könnt ihr eure Jacken aufhängen.«
Als sie ins Wohnzimmer traten und den gedeckten Kaffeetisch sahen, tauschten Sascha und Joy einen Blick. Zwei Torten, ein Marmorkuchen. Wer sollte die essen? Oder erwartete sie noch andere Gäste? Es war aber nur für drei gedeckt. Überall, auf Kommoden und in Regalen, standen Fotos von Natalie, auch die Wände waren voll
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