Stirb leise, mein Engel
er sich vor wie ein Lügner.
Frau Wagner fragte in die Gegensprechanlage, wer an der Tür sei. »Polizei«, kam es zurück. »Wir müssen noch einmal mit Ihnen reden.«
Sie drückte den Türöffnerknopf, wandte sich ratlos zu Sascha um und fragte: »Was wollen die noch?«
Obwohl er es sich denken konnte, zuckte er mit den Schultern. Er hatte über die Jahre zu vielen Fachgesprächen zwischen seinen Eltern zugehört, um nicht zu wissen, wie Ermittler dachten und vorgingen. Weil Laila mit Zyankali vergiftet worden war, checkten sie noch einmal gründlich den Hintergrund aller Mädchen ab, die in der letzten Zeit an demselben Gift gestorben waren. Solche Nachforschungen waren reine Routine.
»Wir verschwinden besser«, sagte Sascha und rief Richtung Wohnzimmer: »Joy, kommst du? Wir müssen los.«
Er hielt ihr schon die Jacke hin, als sie in die Diele kam. Sie verabschiedeten sich von Frau Wagner. Joy umarmte sie, was der trauernden Mutter einmal mehr die Tränen in die Augen trieb. Und Sascha beinahe auch. Joy war nicht nur cool, sie hatte auch jede Menge Herz. Gab es irgendwas, das an ihr nicht perfekt war?
»Schau an, der junge Herr Schmidt!«, hallte es ihnen im Flur entgegen, kaum dass die Tür hinter ihnen zugegangen war.
Sascha kannte einen der beiden Polizisten von der Beerdigung seines Vaters. Falterer – das war sein Name. Seine Mutter hatte auch schon einiges von ihm erzählt. Sie konnte ihn nicht leiden.
»Warst du bei Frau Wagner?«
Sascha nickte. »Ich hab Natalie gekannt. Sie war auf meiner Schule.«
»So, so.« Er wies mit dem Kinn auf Joy. »Deine Freundin? Fesch. Und sogar ein bissel exotisch.« Er grinste.
»Lieber exotisch als idiotisch«, gab Joy zurück.
Falterer glotzte sie an wie einen sprechenden Hund.
»Schönen Tag noch«, sagte Sascha schmallippig, schob Joy weiter und raunte ihr zu: »Reg dich nicht auf. Der Typ ist keinen Schuss Pulver wert.«
»Gleichfalls«, rief Falterer ihm nach.
Bestimmt würde er Saschas Mutter von der Begegnung erzählen, und die würde ihn dann ebenso bestimmt wieder mit einer Menge Fragen nerven.
»Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«, fragte Joy im Treppenhaus. »Ich meine, während ich mit Frau Wagner Kaffee getrunken hab.«
»In Natalies Zimmer. Hab mich dort ein wenig umgesehen.«
In ihren Augen gingen zwei kleine Lämpchen an. »Und? Was gefunden?«
»Kann ich noch nicht sagen. Anscheinend hat sie mir einen Brief geschrieben, ihn aber zerrissen und weggeschmissen. Ich hab die Fetzen mitgenommen.«
»Super. Die setzen wir gleich nachher zusammen.«
Nur zu gerne hätte Sascha sofort damit begonnen. Aber Mareike wartete im
Rocky
auf ihn, und da er ihre Handynummer nicht hatte, konnte er ihr nicht absagen. »Ich muss vorher noch woandershin.«
»Ach so. Der Anruf.«
Er spürte, dass sie am liebsten gefragt hätte, wen er gleich treffen würde, aber da sie schwieg, schwieg auch er.
»Ich hab übrigens auch etwas erfahren«, sagte sie nach einer kurzen Weile, als sie auf der Straße waren. »Natalie und ihre Freundin Alina haben wirklich alles geteilt. Auch den Therapeuten. Dr. Androsch. Das ist doch deiner, oder?«
Sascha nickte. Er hatte Joy zwar schon vor Langem erzählt, dass er zu einem Therapeuten ging, aber er redete trotzdem nicht gerne mit ihr darüber. Deshalb war er ganz froh, dass ihre Wege sich jetzt trennten.
16
PÜNKTLICH AUF DIE Minute traf Sascha vor dem
Rocky
ein. Mareike war schon da, er sah sie durch die Glasfront an der Bar sitzen und in einen Cocktail starren. Sie war wieder perfekt gekleidet und gestylt, so als käme sie geradewegs von einem Fotoshooting. Für einen Moment wirkte sie in ihrer Regungslosigkeit wie eine Schaufensterpuppe. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sie und Natalie befreundet gewesen sein sollten. Aber dann erinnerte er sich wieder daran, wie Mareike an Natalies Grab gestanden hatte. Etwas, das man nicht auf Anhieb sah, hatte die beiden wohl verbunden.
Mareike bemerkte ihn erst, als er fast schon neben ihr stand. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. »Hi«, grüßte sie, »da bist du ja. – Oh, da drüben wird ein Tisch frei. Komm!« Sie nahm ihr Glas und ihre Handtasche und ging ihm voraus zu dem Tisch, den sie entdeckt hatte. »So ist es doch viel … intimer«, sagte sie, nachdem sie sich niedergelassen und die leeren Gläser ihrer Vorgänger an den Rand geschoben hatten.
Sascha schob die Hand in die Hosentasche und umfasste den Knäuel aus Papierschnipseln, die er jetzt viel
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