Stirb leise, mein Engel
davon. Frau Wagner brachte die Vase mit den Blumen und die Kaffeekanne und stellte beides auf die makellos weiße Tischdecke.
»Setzt euch, setzt euch! Ich wusste nicht, welchen Kuchen ihr mögt. Das hier ist eine Prinzregententorte, dann haben wir noch Marmorkuchen und Schwarzwälder Kirsch.«
»Ein kleines Stück Marmorkuchen«, sagte Sascha, nachdem sie sich gesetzt hatten.
»Für mich Schwarzwälder Kirsch, ruhig ein großes Stück.«
»Da hast du recht, Joy«, sagte Frau Wagner und lachte mit sichtlich gespielter Munterkeit, »wenn schon, denn schon. Und du bist ja eh so dünn.«
Sie teilte die Kuchenstücke aus, schenkte Kaffee ein und vergaß sich selbst bei allem, sodass ihr Teller und ihre Tasse leer blieben. Dann kehrte Stille ein. Eine Stille, die das Klacken der Kuchengabeln auf dem Porzellan nicht zu füllen vermochte. Während Frau Wagner stumm dasaß und ihre Tasse auf dem Unterteller hin und her drehte, stopfte Sascha sich große Bissen Kuchen in den Mund, damit er nichts sagen musste. Er hätte nicht gewusst, was. Er kannte diese beklemmende Stille aus der Zeit nach dem Tod seines Vaters nur zu gut. Sie war wie ein finsteres, bodenloses Loch voller Fragen, auf die es keine Antworten gab und auch keine geben konnte. Eigentlich war es nur eine einzige Frage. Nur ein einziges Wort: Warum?
»Das da auf den Bildern ist sicher Natalie, oder?«, brach Joy das Schweigen und deutete mit der Gabel auf die Fotos. Sascha war erleichtert, dass sie das Reden übernahm. »Ich hab Ihre Tochter leider nie kennengelernt, aber er hier –«, sie stieß Sascha sachte gegen den Arm, »er war ziemlich verknallt in sie.«
Er warf ihr einen missbilligenden Seitenblick zu. Wieso sagte sie so etwas? Woher wollte sie das wissen?
»Ach ja …?«, sagte Frau Wagner mit einem Seufzen und sah Sascha an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Natalie hat dich erwähnt, Sascha. Sie hatte dich auch sehr gerne. Sonst hat sie ja wenig erzählt. Sie war ziemlich verschlossen. Sehr auf sich selbst bezogen. Immer schon. Drum hatte sie auch kaum Freunde.«
»Gab es vielleicht zuletzt jemanden?«, klinkte sich Sascha ein.
Doch Frau Wagner antwortete nicht darauf, sondern fuhr einfach fort: »Und wenn sie sich auf jemanden einließ, dann war’s garantiert jemand, der nicht gut für sie war. Ich will nicht schlecht über Alina reden. Sie war ein nettes Mädchen. Aber die beiden … Man hat ja gesehen, wohin es führt. Dass sie sich so kurz nacheinander …« Frau Wagner blinzelte, schluckte, räusperte sich, dann ein Lächeln wie in Beton gemeißelt. »Gleich und gleich gesellt sich eben gern.«
»Sagt Ihnen der Name Tristan was?«, hakte Sascha nach.
Frau Wagner schaute ihn irritiert an. »Was? Tristan?«
In diesem Moment klingelte sein Handy. Zu dumm! Wieso hatte er es nicht ausgemacht? Oder wenigstens lautlos geschaltet. Er zog es aus der Hosentasche.
Rufnummer unbekannt
, stand im Display. Wer konnte das sein? Ob was mit seiner Mutter war? Die alten Reflexe, noch immer nicht ganz besiegt.
»Sorry«, sagte er und stand auf, »ich muss da rangehen.« Er verschwand auf den Flur und hielt den Atem an, was ihn seinen Herzschlag nur umso deutlicher spüren ließ.
»Ja?«
»Hi, Sascha.«
Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen.
»Wer ist denn da?«
»Du erkennst mich nicht? Jetzt bin ich aber beleidigt.«
»Mareike?«
»Genau die.«
Seit Natalies Beerdigung hatte er nichts von ihr gehört, und er hatte auch nicht damit gerechnet, je wieder von ihr zu hören.
»Was machst du gerade?«, fragte sie.
»Nichts Besonderes.«
»Können wir uns sehen?«
»Klar. Wann passt es dir denn?«
»Jetzt sofort.«
»Geht nicht. Erst später.«
»Und das wäre dann wann?«
»Um sechs oder so.«
»Sechs ist in Ordnung. Und wo?«
»Ich kann zu dir kommen.«
»Besser nicht. Kennst du das
Rocky
in der Leopoldstraße?«
»Klar.«
»Dort warte ich auf dich. Um sechs. Komm ja nicht zu spät.«
Ehe Sascha noch etwas erwidern konnte, hatte sie schon aufgelegt. Wie ist die denn drauf?, dachte er verwundert und steckte das Handy weg. Irgendwie imponierten ihm Mareikes klare Ansagen. Kein Getue, kein Gelaber. Und keine schwer ergründbaren Stimmungsschwankungen wie bei Natalie.
Nachdenklich verharrte er im Flur. Von Frau Wagner würden sie nichts über Tristan erfahren, so viel stand fest. Am besten, er nutzte die Gelegenheit, sich ungestört in Natalies Zimmer umzusehen. Vielleicht gab es in ihren Sachen ja
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