Stirb leise, mein Engel
flog die Tür auf, und Joy stand vor ihm.
»Hi«, grüßte er, »ist ziemlich spät geworden. Sorry.«
»Kein Problem. Komm rein.«
Er war einmal mehr von ihr beeindruckt. Wie schaffte sie es bloß, in einem ausgeleierten Langarmshirt und etwas, das aussah wie eine alte Schlafanzughose, so sexy auszusehen?
»Alles okay?«, fragte sie, nachdem sie die Tür hinter ihm zugemacht hatte.
Fernsehergeräusche und -stimmen drangen in die Diele.
»Klar. Wieso?« Er rollte die Klarsichthülle, die er dabeihatte, zusammen.
»Weil du nicht so aussiehst. Hast du Hunger?«
»Nee.«
»Ich hab mir heute ein Drei-Gänge-Menü genehmigt. Als Vorspeise gab’s Essiggurken, als Hauptgang Kartoffelchips – natürlich die guten Cheese-and-Onion! – und als Dessert Gummibärchen.«
»Sehr nahrhaft.«
»Nicht wahr?« Sie blinzelte ihn an.
Ihre Heiterkeit war ein Segen. Sofort fühlte er sich besser.
Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer lagen noch die Hinterlassenschaften ihres Festmahls: eine Chips-und eine Gummibärchentüte, ein leeres Gurkenglas und eine ganze Menge Krümel. Im Fernseher sah man zwei Männer mit Dreitagesbart in einen Motor schauen.
»Was siehst du dir da an?«
»Die beiden Typen wollen einen alten VW -Käfer zur Rennmaschine tunen. So wie die aussehen, könnten sie allerdings selbst auch ein Tuning vertragen.« Sie stellte den Fernseher ab und ließ sich aufs Sofa plumpsen.
»Wie war eigentlich dein Date?«
Er hatte es geahnt.
»Mein was?«, fragte er unschuldig.
»Na, dein Date, zu dem du abgedüst bist.«
»Das war doch kein Date.«
»Echt nicht? Wieso hast du dann so geheimnisvoll getan?«
»Hab ich gar nicht. – Okay, ich hab mich mit einem Mädchen getroffen, aber es war trotzdem kein Date. Ich kenne sie von Natalies Beerdigung. Sie ist … war eine Freundin von Natalie oder eine Bekannte, keine Ahnung. Das ist auch schon alles.«
»Hat sie auch einen Namen?«
»Mareike.«
»Hm. – Ist sie hübsch?«
»Irgendwie schon. Obwohl …« Nicht so wie du, hätte er fast gesagt. »Sie ist … eher interessant. Also, rein menschlich, jetzt.«
Joy grinste. »Schon klar. Werdet ihr euch wiedersehen?«
»Kann sein, keine Ahnung.«
»Kein Grund, rot zu werden, Alter.«
Sie boxte ihn gegen die Schulter.
Ihm war wirklich heiß geworden, aber nicht wegen Mareike, sondern wegen ihr. Sie trug nämlich unter ihrem Shirt keinen BH , und er konnte kaum aufhören hinzusehen.
»Ich hab den Brief zusammengesetzt«, wechselte er abrupt das Thema und schließlich auch die Blickrichtung, setzte sich zu ihr aufs Sofa, entrollte die Klarsichthülle und zog den Brief heraus. Er hatte die Fetzen auf ein leeres Blatt Papier geklebt.
»Und was ist das?« Joy deutete auf den Umschlag, der noch in der Hülle steckte.
»Nur ein Kuvert. Das hab ich auch aus Natalies Zimmer mitgenommen, weil Alinas Adresse auf der Rückseite steht.«
»Gute Arbeit, Holmes!«
Er legte den Brief auf den Couchtisch. Gemeinsam lasen sie:
Lieber Sascha,
wenn Du das liest, bin ich schon auf der anderen Seite, und alles ist gut. Seit der Sache im Schulhof hab ich Dich irgendwie als meinen Beschützer gesehen. Das war blöd von mir. Du konntest ja gar nichts tun. Niemand konnte was tun.
Bist Du mir wegen Tristan immer noch böse? Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen, dass ich so gemein zu Dir war, als Du mich mit ihm gesehen hast. Aber Tristan hilft mir nur. Wir helfen uns gegenseitig. Es war also nicht, weil ich Dich nicht mag oder ihn lieber als Dich. Ich hab solche Gefühle nicht. Für niemanden. In mir ist es nur kalt und leer. Bloß mit Alina war es anders. Oder mit Joachim. Aber er hat nur –
Hier brach der Brief ab.
Jetzt bloß nicht wieder flennen, dachte Sascha. Die Beklemmung in der Brust – war sie wieder da? Atmen. Atmen! Ein. – Aus. – Ein. – Aus. –
Das coole Herz
.
»Geht’s?«
Eine Hand hatte sich auf sein Knie gelegt. Joys Hand.
Der Druck in seinem Innern fiel. Der Atem floss. Das Herz schlug im normalen Takt.
»Klar.« Ein Räuspern. »Was hältst du davon?« Er deutete auf den Brief.
Joy nahm ihre Hand von seinem Knie und wiegte unschlüssig den Kopf. »Sie schreibt, Tristan hat ihr geholfen. Das kann viel bedeuten.«
»Unter anderem, dass er ihr das Gift beschafft hat.«
»Unter anderem, ja. Aber wie hat sie ihm geholfen? Und wer ist dieser Joachim?«
»Das ist Androsch. Hab ich dir das nicht erzählt? Sie war in ihn verknallt, aber er ist natürlich nicht darauf eingegangen. Deshalb war sie von ihm
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