Stirb leise, mein Engel
weitergehen?
Es klingelte an der Tür. Fast schon erleichtert über die Störung, ging er, um zu öffnen. Es war Joy. Obwohl sie die Ursache seiner merkwürdigen Stimmung war, fühlte er sich schlagartig besser.
»Hast du Zeit?«
»Für dich immer.«
Sie gingen in sein Zimmer. Joy setzte sich auf die Bettkante, Sascha auf den Schreibtischstuhl.
»Ich war heute bei der Familie von Alina.«
Sascha sah sie an, verstand nicht.
»Ihr Bruder hat mir erzählt, dass sie Tagebuch geführt hat. Das ist doch super! Ich glaube, er wird uns helfen und nachsehen, ob in ihren letzten Einträgen was steht, das uns weiterbringen könnte.« Sie lächelte erwartungsvoll.
Lächelte, während seine Laune im freien Fall ins Bodenlose stürzte. »Kann ja sein«, sagte er beherrscht, obwohl er kurz vor dem Explodieren war, »aber … was ich nicht verstehe, ist, warum du da alleine hingehst.«
»Warum nicht? Wo ist das Problem? Wir sind ein Team: Sherlock macht die Denk-, Watson die Laufarbeit.«
Tat sie nur so, oder kapierte sie wirklich nicht, worum es ihm ging?
Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Was heißt hier Team!«, fuhr er sie an. »Wenn man einfach losrennt, ohne das abzusprechen, dann ist das für mich kein Team.«
Das Lächeln verschwand schlagartig von ihren Lippen. »Okay«, gab sie zu, »das war vielleicht ein bisschen zu … eigenmächtig. Aber ich hab mir nichts dabei gedacht. Du kannst doch froh sein, dass ich da alleine hin bin.«
»Wieso?«
»Na ja … Ich hab doch gesehen, wie dir das alles zusetzt … Natalies Brief … Das alles eben …«
Verstehe, dachte er bitter. Der arme Junge.
Diese Art vorauseilender Sorge machte ihn nur noch wütender. Von seiner Mutter war er das gewohnt. Aber Joy!
»Du hilfst
mir
, nicht umgekehrt«, polterte er. »Dich geht das alles doch gar nichts an. Natalie hat mir was bedeutet, kapiert?« Er wollte es nicht sagen, aber dann tat er es doch: »Und tu bloß nicht so, als würde es dich interessieren, wie es mir geht. Dir sind die Gefühle anderer Leute doch total egal. Dir geht es nur um dich selbst!«
Ihr Gesicht versteinerte. Sie schluckte mehrmals. Ausnahmsweise hatte es ihr mal die Sprache verschlagen. Nach ein paar Schrecksekunden sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf und lief hinaus. Gleich würde die Wohnungstür knallen. Doch der Knall blieb aus. Eine gefühlte Ewigkeit später kam sie zurück ins Zimmer. Ihre Augen blitzten, als sie ihm den Zeigefinger wie eine bedrohliche Waffe entgegenstreckte. »Okay, du kannst sauer auf mich sein. Dein gutes Recht. Aber gefühllos und egoistisch brauchst du mich nicht zu nennen, klar? Das bin ich nämlich nicht. Und wenn du das noch einmal sagst, dann kleb ich dir eine!«
Sie rannte wieder weg, und diesmal hörte er die Tür. Vermutlich hörte man sie noch im letzten Winkel des Hauses, so wie Joy sie zuknallte.
EINE HALBE STUNDE später klingelte Saschas Handy.
Joy
, stand im Display. Sein Zorn hatte sich inzwischen gelegt, auch wenn er ihr eigenmächtiges Handeln noch immer nicht okay fand. Ihm war aber auch klar, dass er ihr nicht vorwerfen konnte, was er für sie empfand, und schon gar nicht, dass sie diese Gefühle nicht erwiderte. Nur aus Frust über diese Situation hatte er so heftig reagiert.
Nach dem dritten Läuten nahm er ab.
»Was ist?«
»Bruno hat eben angerufen. Alinas Bruder. Er hat ihre Tagebücher durchgesehen und ist dabei auf was Interessantes gestoßen.« Ihre Stimme klang trocken und rau wie Sandpapier. Anscheinend war sie immer noch gekränkt. Typisch Mädchen, dachte er. Sie bauen Scheiße, geben dir aber das Gefühl,
du
müsstest dich bei
ihnen
entschuldigen.
»Ach ja? Was denn?«, sagte er ebenso nüchtern wie sie.
»Ich simse dir seine Nummer, dann kannst du ihn anrufen und selber fragen.«
Er schnaufte. Mit Mädchen Zoff zu haben war echt kompliziert. Was würde sie tun? Auflegen? Nein. Sie wartete. Das war wohl ein gutes Zeichen.
»Ach komm«, sagte er versöhnlich, »das ist doch bescheuert. Ruf ihn an, und mach ein Treffen aus. Wir gehen natürlich gemeinsam hin.«
»Und wenn ich nicht mehr will?«
»Dann fände ich das sehr schade.«
»Ich werte das mal als Entschuldigung. Hol mich in zehn Minuten ab.«
Zehn Minuten später klingelte Sascha an ihrer Tür. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis Joy vor ihm stand. Sie strahlte wie eh und je, der Streit schien vergessen. War er aber nicht, denn während sie im Hinterhof ihre Fahrräder aufschlossen, sagte sie:
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