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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Götz
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enttäuscht.«
    »Ach so.«
    In diesem Moment hörten sie, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Joys Mutter kam nach Hause.
    »Oh-oh«, machte Joy, »das heißt nichts Gutes. So früh kommt sie sonst nie. Anscheinend wollte ihr Date wirklich nur tanzen.«
    »Das ist so was von das Letzte«, hörten sie sie in der Diele schimpfen. Als sie ins Wohnzimmer kam und Sascha sah, zuckte sie zusammen. »Was treibt ihr beiden denn noch um die Zeit?«
    »Dasselbe wie du, Mama«, witzelte Joy mit einem breiten Grinsen. »Keinen Sex haben.«
    Die Augen ihrer Mutter blitzten böse. »Sei bloß nicht so frech!«
    Sascha hatte keinen Bedarf an Mutter-Tochter-Wortgefechten. Er nahm Natalies Brief vom Tisch und stand auf. »Ich geh dann besser.«
    Joys Mutter ignorierte seine Absicht, stellte sich vor ihn hin und fragte zeternd: »Was ist nur mit den Männern los? Kannst du mir das sagen, Sascha? Der Typ wollte die Rechnung bis auf den Cent genau teilen. Und dann sollten wir mit dem Bus fahren. Taxi war ihm zu teuer. Dabei hat er Geld wie Heu!«
    Joy sprang nun ebenfalls auf und stellte sich schützend an Saschas Seite. »Lass den armen Jungen in Ruhe, Mama, der kann nun wirklich nichts dafür, dass dein Date ein Reinfall war.« Ehe ihre Mutter etwas erwidern konnte, zog sie Sascha mit sich zur Tür. »Wir sehen uns morgen«, sagte sie dort und umarmte ihn. Ohne Vorwarnung. Einfach so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
    Was es nicht war. Es knockte ihn regelrecht aus.
    Als er wieder zu sich kam, hatten sie sich längst »Gute Nacht« gesagt, er starrte bloß noch, Natalies Brief in der Hand, auf eine verschlossene Tür und versuchte dabei krampfhaft zu rekonstruieren, was eben passiert war. Wie lange hatte es gedauert? Wo waren ihre Hände gewesen? Vor allem: Hatte er auch etwas getan, oder hatte er nur steif wie ein Stockfisch dagestanden? Wie hatte sie sich angefühlt? Ziemlich deutlich konnte er sich noch an ihren Geruch erinnern, diese süße Mischung aus Parfüm oder Deo und noch etwas. Etwas, das er nicht bezeichnen konnte, außer mit: Joy.
    Nach und nach, wie verspätete Botschaften, kamen die Gefühle bei ihm an. Die Unruhe. Die Erregung. Das Glück. Sie füllten seinen Bauch, seine Brust und seinen Hals bis zum Platzen.
    Als er die Wohnungstür aufschloss, kam ihm jedoch etwas anderes wieder in den Sinn. Wie hatte Joy ihn vor ihrer Mutter genannt?
Der arme Junge.
So also sah sie ihn. Nur deshalb hatte sie ihn umarmt. War er das wirklich: ein armer Junge?

18
    ES WAREN NUR noch ein paar Häuser bis zur Nummer acht. Joy verlangsamte ihre Schritte. Ein Glück, dass Sascha am Abend zuvor das Kuvert mit Alinas Adresse hatte liegen lassen. Der Straßenname war ihr gleich bekannt vorgekommen, und ihre Erinnerung erwies sich als richtig, die Straße lag tatsächlich nur eine Trambahn-Haltestelle von ihrer Schule entfernt. Sie konnte den Besuch also problemlos in der Mittagspause erledigen und Sascha mit den Ergebnissen überraschen. Aber was sollte sie sagen? Am besten, sie gab sich als eine Freundin aus, die zufällig in der Gegend war.
    Wird schon schiefgehen, dachte sie nun, da sie vor dem richtigen Haus ankam. Es war ein typisches Reihenhaus mit einem Rasenstück im Vorgarten, das von einem gepflasterten Weg durchtrennt wurde. In einem der Fenster sah sie jemanden stehen, der sich aber sofort zurückzog, als sie hinschaute. Sie drückte die Klinke der Gartentür nach unten, das Quietschen klang wie eine letzte Warnung. Beherzt legte sie den Weg bis zur Haustür zurück und klingelte. Ihr ganzer Körper war erfüllt von einem wuchtigen Wummern und Pulsieren.
    Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig – es tat sich nichts. Sollte sie ein zweites Mal läuten? Oder war das zu aufdringlich? Während sie noch mit sich rang, wurde die Haustür geöffnet. Vor ihr stand ein junger Mann, den sie auf gut zwanzig Jahre schätzte und den sie, obwohl er nicht besonders gepflegt aussah, irgendwie attraktiv fand. Sein kurzes, blondes Haar stand ihm struppig nach allen Seiten vom Kopf ab, und rasiert hatte er sich mindestens seit drei oder vier Tagen nicht. Ihm war anzusehen, dass er gerade eine harte Zeit durchmachte.
    »Ja?«, fragte er.
    Wer immer er war – Joy tippte auf Alinas Bruder –, sie brachte es nicht über sich, ihn zu belügen. »Ich komme wegen Alina«, sagte sie daher bewusst unklar. »Ich hätte ein paar Fragen. Ach ja, mein Name ist Joy.«
    Der Mann schien zu überlegen, ob er sie wegschicken sollte.

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