Stirb leise, mein Engel
Hat dich jemand versetzt?«
Joy sah sie böse an. Ihre Mutter konnte der liebste Mensch der Welt sein. Aber sie wusste auch, wie man eine Spitze setzte. Zum Glück verschwand sie gleich wieder, allerdings ohne die Tür hinter sich zuzumachen. Wenn sie ein Date hatte, war sie noch unerträglicher als sonst. Wo sie nur diese Typen immer aufgabelte? Angeblich ging sie mit ihnen immer nur gepflegt essen und hinterher ein bisschen tanzen. Musste man sich dafür wirklich so aufbrezeln? Und so knallig schminken? Kriegte man in ihrem Alter wirklich nur noch einen ab, wenn man sich so weit unter sein eigenes Niveau begab?
»Ich versteh überhaupt nicht«, rief sie jetzt aus dem Bad, »wieso ein so attraktives Mädchen wie du dauernd alleine zu Hause sitzt. Du bist jung und siehst gut aus und könntest so viel Spaß haben.«
»Ja, ja.«
»Oder wenn schon kein Kerl, dann wenigstens mit Freundinnen was unternehmen. Mädels können doch auch ohne Jungs Spaß haben. Zu meiner Zeit war das so.«
Jetzt also wieder die Leier. Sie hatte ja keine Ahnung, wie es war, ein exotisch aussehendes Mädchen zu sein, nach dem sich die Männer reihenweise umdrehten. Damit machte man sich keine Freundinnen. Wie oft sollte sie ihr das noch erklären? Sie ließ es bleiben. Hatte ja eh keinen Zweck.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis ihre Mutter wieder im Zimmer stand, eingehüllt in eine dichte Parfümwolke. »Der Einzige, den du triffst, ist Sascha. Aber … Na ja, versteh mich nicht falsch, ich finde Sascha nett, aber er ist doch noch ein bisschen grün hinter den Ohren, findest du nicht?«
»Wir sind nur Freunde. Kumpel. – Oh, Mama, raus hier! Du verpestest mein ganzes Zimmer.«
Ihre Mutter ignorierte das geflissentlich. »Ich versteh bis heute nicht, wieso du Alfi den Laufpass gegeben hast. Der war doch nett und machte auch was her.« Sie lächelte ihr knalliges Lippenstiftlächeln.
Joy senkte den Blick auf ihren Laptop. »Hat halt nicht funktioniert.«
»Funktioniert … Wenn ich das schon höre. Ein Toaster muss funktionieren. – Was machst du da überhaupt?«
»Ich schau nach, was man braucht, um Zyankali herzustellen.«
»Zyankali? Willst du mich vergiften?«
»Keine schlechte Idee.«
»Bin schon weg.«
Diesmal flog die Tür zu.
Endlich.
Joy war auf ein Video gestoßen, in dem vorgeführt wurde, wie sich Zyankali im Labor herstellen ließ. Chemisch hieß es Kaliumzyanid und war das Kaliumsalz der Blausäure. Aha, dachte sie und klickte auf
Start
. Während im Film eine Mischung aus Schwefelsäure und rotem Blutlaugensalz mit einem Bunsenbrenner erhitzt wurde, hörte sie, wie es läutete. Mamas Stecher, dachte sie. Kurz danach hörte sie die Wohnungstür, dann wurde es still. Wenigstens hielt sie sich an die Abmachung und ließ ihre Gelegenheitsbekanntschaften nicht mehr in die Wohnung. Sie würde bestimmt einen schönen Abend haben. Genau wie Sascha, mit wem auch immer. Alle schienen sich zu amüsieren. Jeder schien jemanden zu haben. Bloß sie saß alleine hier in ihrem Zimmer. Ihre Mutter hatte irgendwie schon recht, aber so was durfte man natürlich nicht zugeben, sonst kriegte man es noch viel öfter aufs Brot geschmiert. Außerdem: So schlimm war das auch wieder nicht. Sie kam gut mit sich selbst klar. Lieber allein als zu zweit einsam, sagte sie sich.
Das Video war zu Ende. Ein kleines Häufchen krümeligen Zyankalis lag auf einer Löffelspitze. Echt krass, dachte sie, für jemanden, der nur einen Funken Ahnung von Chemie und ein bisschen Übung hat, ist das bestimmt kein Problem.
Sie kopierte den Link in eine E-Mail an Sascha und schrieb:
Hab ich eben
gefunden, ist der Hammer, Sherlock. Dein Watson.
PS : Wie war Dein Date? Ruf mich sofort an und erzähl mir
ALLES . Uhrzeit egal.
Sie überlegte. Konnte sie das wirklich so schreiben? Besser nicht, sonst glaubte er noch, sie wäre eifersüchtig. Oder neugierig. Oder beides. Sie löschte das Postskriptum, dann klickte sie auf
Senden
.
»DU BIST ÜBERHAUPT so der Beschützer-Typ, oder?«
Sascha kratzte sich im Nacken. »Keine Ahnung. Wieso?«
Mareike lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah ihn an. »Na, du kümmerst dich um Natalies Mutter, die dir eigentlich egal sein könnte. Und du wolltest Natalie beschützen. Das finde ich echt cool.«
Er bereute schon, dass er ihr von Natalies Ausraster auf dem Schulhof und ihrem Gespräch danach im Geräteraum der Turnhalle erzählt hatte. Auch wenn er sie damit anscheinend beeindruckt hatte,
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