Stirb leise, mein Engel
Und als die Polizei das Tagebuch angesehen hat, fehlten die Seiten schon. Sagen meine Eltern zumindest, ich war nicht dabei. Aber ich glaube ihnen das.«
»Was hat die Polizei dazu gesagt?«
»Gar nichts. Das war nur Routine. Es stand ja fest, dass Alina sich selbst umgebracht hat. Die haben nur einen Hinweis darauf gesucht, wie sie an das Zyankali kam. Deshalb haben sie auch ihren Laptop und ihr Handy untersucht, auch ohne Ergebnis.«
Sascha und Joy tauschten einen Blick. Die Gedanken des anderen zu erraten war nicht schwer. Es war eigentlich nur eine einzige Frage: Was hatte auf den vernichteten Seiten gestanden? Was gab es, das niemand wissen durfte, selbst nach Alinas Tod nicht?
19
SARAH HERTZ. DAS war ihr vollständiger Name. Ihn herauszufinden war ein Klacks gewesen. Sascha hatte den Vornamen und das Stichwort
Selbstmord
gegoogelt und war so auf die Trauerseite gestoßen, die ihre Familie für sie im Internet eingerichtet hatte. Die Adresse stand im Impressum. Es handelte sich um eine Trabantensiedlung am Stadtrand, zu der nur eine einzige S-Bahn fuhr. Sascha und Joy sprühten beide nicht gerade vor guter Laune, sondern saßen die meiste Zeit schweigend nebeneinander. Obwohl sie sich wieder versöhnt hatten, steckte ihnen der Streit vom Vortag noch in den Knochen.
»Alinas Bruder steht auf dich«, brach Sascha das Schweigen und bereute es im gleichen Moment, ausgerechnet mit so einem blöden Thema angefangen zu haben.
»Kann sein«, antwortete Joy.
»Und du? Stehst du auf ihn?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist nett.«
Sie fielen zurück in ihr Schweigen. Sascha betrachtete Joy. Hammer, wie sie wieder aussah. Die rote Jacke. Die zerrissene Jeans. Andererseits: Hübsche Mädchen gab es jede Menge. Wieso bedeutete gerade sie ihm so viel? Wieso verliebte man sich in die eine und in eine andere nicht? Denn das Eigenartigste war ja: Selbst wenn sie nur halb so toll ausgesehen hätte, hätte er sie nicht weniger großartig gefunden.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts. Wieso?«
»Weil du so guckst.«
Er wandte den Kopf ab, schaute aus dem Fenster ins trübe Grau dieses Novembertags und spürte, wie er rot wurde. Ob sie seine Gedanken erraten hatte? Er musste endlich aufhören, solche Gedanken zu haben. Und solche Gefühle. Er schob die Hand in die Hosentasche und umfasste das Glitzerherz. Sie war nur ein Kumpel. Nichts weiter. Je schneller er das verinnerlichte, desto besser war es für alle.
»WIE SOLLEN WIR es machen?«, fragte Sascha, als sie sich dem Wohnsilo näherten, das man schon von der S-Bahn-Station aus gesehen hatte. »Was sollen wir sagen?«
»Die Eltern anzulügen, nur um was zu erfahren, finde ich fies«, antwortete Joy. »Wenn es für dich okay ist, kann ich erst mal das Reden übernehmen. Als Mädchen hat man es in solchen Situationen leichter.«
»Sofern es einen älteren Bruder gibt, bestimmt.« Er biss sich auf die Unterlippe. Wieso musste ihm schon wieder so eine blöde Bemerkung rausrutschen?
Sie sah ihn mit einem genervten Blick an. »Du kannst gerne –«
»Quatsch!« Er boxte sie in die Schulter, grinste. »War doch nur Spaß.«
Als es nur noch ungefähr zwanzig Meter waren, bemerkten sie vor dem Eingang des Wohnsilos einen unrasierten Mann in einer abgewetzten Lederjacke, der gierig eine Zigarette rauchte und dabei ein paar kleine Jungs im Auge behielt, die auf dem Bolzplatz gegenüber Fußball spielten. Sascha nickte dem Mann im Vorübergehen zu, doch der reagierte nicht. Die Klingelleiste an der Tür war endlos lang, und nicht auf allen Schildern standen Namen.
»Wen sucht ihr denn?« Der Raucher war näher gekommen und klopfte, während er fragte, die Asche von der Zigarette.
»Familie Hertz«, antwortete Sascha.
»Ach, und warum?«
»Wir wollen bloß was fragen.«
»Dann fragt. Ich bin Rüdiger Hertz.«
Sie wandten sich ihm zu und ließen sich von ihm misstrauisch beäugen. Wie verabredet, ließ Sascha Joy den Vortritt.
»Es geht um Sarah«, sagte sie. »Genauer gesagt, um einen Jungen namens Tristan. Kannte sie jemanden, der so hieß?«
Rüdiger Hertz überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Der Name sagt mir rein gar nichts.«
»Dann hatte sie also keinen neuen Freund kurz vor ihrem …?«
Sein Blick fiel bleischwer zu Boden, er begann, mit dem Absatz auf dem Asphalt zu scharren. »Normalerweise hat Sarah sich in ihrem Zimmer verkrochen und vor sich hin geträumt. Aber in ihren letzten Wochen war sie ziemlich viel weg. Wir wollten
Weitere Kostenlose Bücher