Stirb leise, mein Engel
»Es war nicht okay, dass ich einfach so zu Alinas Familie gegangen bin. Ich hätte das mit dir absprechen sollen.«
»Schon gut. Was ich gesagt hab, war totaler Quatsch. Sorry.«
»Du findest mich also nicht gefühllos und egoistisch?«
»Natürlich nicht. Sonst wäre ich nicht mit dir befreundet.«
JOY HATTE MIT Bruno ein Café ganz in ihrer Nähe als Treffpunkt vereinbart. Als sie dort ankamen, ließ sie den Blick über die Tische schweifen. »Dahinten ist er!« Sie deutete auf einen Tisch, an dem ein blonder Mann saß, und ging voraus, Sascha folgte ihr. Joy begrüßte den Blonden, als würden sie sich schon ewig kennen. Dann wandte sie sich um und stellte Sascha vor. Bruno roch nach Duschgel, Deo und Rasierwasser. Es war offensichtlich, dass er sich für Joy interessierte. Aber welches männliche Wesen tat das nicht?
»Ich bin echt froh, endlich mal rauszukommen«, sagte er. »Meine Eltern drehen langsam total ab. Weißt du, was mein Alter gestern gemacht hat? Er wirft mir einen Block hin, auf dem steht eine Rechnung. Ich hab natürlich keine Ahnung, was das soll. Dann erklärt er es mir. Die Grundfläche unseres Hauses beträgt hundertzwanzig Quadratmeter, zwei Stockwerke à zwei Meter fünfzig, macht summa summarum sechshundert Kubikmeter Schweigen. Sechshundert Kubikmeter Stille.« Er schüttelte den Kopf. »Wo soll das enden? Mein Alter ist noch übler drauf als meine Mutter. Hätte ich nie gedacht. Das ist einer, der verschluckt lieber seine Zunge, als dir zu sagen, dass er dich mag. Keine Ahnung, wie lange ich es mit den beiden noch aushalte. Ich war ja schon ausgezogen. Hab ein Zimmer in einer WG mit zwei Kumpels. Alles war total cool. Party ohne Ende. Und jetzt …«
Sascha und Joy ließen Bruno reden. Er war wie ein Kessel unter Druck, an dem sich endlich ein Ventil geöffnet hatte.
»Ich kapier das nicht. Wieso hat Alina das bloß getan? Ihr ging’s doch gut. Über ein Jahr war sie bei einem Therapeuten in Behandlung wegen ihrer
suizidalen Tendenzen
, wie das dann immer heißt. Sie war auf einem guten Weg. Zumindest haben das alle gedacht. Oder wir wollten es denken. Wollten nicht wahrhaben, dass wir uns mehr kümmern müssten. Ich weiß es nicht.«
Sascha entging nicht, dass Joy tröstend Brunos Unterarm berührte.
»In ihrem Abschiedsbrief hat sie geschrieben: Niemand hat Schuld. Aber das kann doch gar nicht sein. Wenn niemand Schuld hätte, dann würde sie doch noch leben.«
Er sank zurück, starrte eine Weile vor sich hin. Dann blickte er wieder auf und rang sich ein bitteres Lächeln ab. »Tut mir leid, Leute, dass ich euch so zutexte. Das war nicht meine Absicht.«
»Du hast nicht zufällig mitgekriegt, ob Alina in der letzten Zeit vor ihrem Tod mit jemandem zusammen war?«, fragte Sascha.
»Das hat mich Joy auch schon gefragt. Wie gesagt, ich wohne erst wieder hier, seit Alina tot ist. Davor hab ich kaum mitbekommen, was so lief. Meine Eltern will ich lieber nicht fragen, die wissen auch bestimmt nichts. Sie wären die Letzten gewesen, denen Alina ein Geheimnis anvertraut hätte.«
Kann schon sein, dachte Sascha. Aber was zu verschweigen, bedeutete nicht automatisch, dass niemand was wusste. Gerade Mütter hatten einen sechsten Sinn für die Geheimnisse ihrer Kinder. Das hatte er selbst schon oft erlebt. Da fiel ihm ein: Hatte nicht Natalie bei der Begegnung mit Alina im Bus erwähnt, dass deren Mutter ihr was von einem Freund erzählt habe? Trotzdem würde es wohl keinen Sinn haben, die Mutter nach Tristan zu fragen.
Bruno griff in eine Stofftasche, die auf dem leeren Stuhl neben ihm lag, und holte eine schwarze Kladde heraus. »Das ist Alinas letztes Tagebuch.«
»Super«, sagte Joy. »Dürfen wir es uns ein paar Tage ausleihen?«
Bruno schüttelte den Kopf. »Sorry, Leute, aber das geht wohl etwas zu weit. Ich hab’s bloß mitgebracht, um euch was zu zeigen. Das hier.« Er schlug die Kladde auf. Unübersehbar waren eine ganze Menge Seiten herausgerissen. Danach kamen nur noch leere Blätter. »Vielleicht hat sie das selbst getan, vielleicht jemand anders. Keine Ahnung. Es muss aber vor ihrem Tod passiert sein, weil danach außer meinen Eltern und mir keiner an die Bücher rankam.«
»Und du bist ganz sicher«, wandte Sascha ein, »dass dein Vater oder deine Mutter die Seiten nicht doch rausgerissen haben? Weil dort vielleicht was Schlechtes über sie stand?«
»Garantiert nicht. Nach Alinas Tod waren die wie gelähmt. Da hätten sie an so was bestimmt nicht gedacht.
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