Stirb, mein Prinz
Arbeitgeber war.
Josephina, ihre gemeinsame Tochter, würde bald ihren ersten Geburtstag feiern. Da sie beide in Berufen tätig waren, die viel Zeit und Energie in Anspruch nahmen, hatten sie sich darauf geeinigt, sämtliche anfallenden Arbeiten gerecht aufzuteilen. Füttern, Wickeln, Spielen. Sie würden nicht in archaische Rollenmuster zurückfallen. Sie waren Partner und würden alles gemeinsam angehen.
Lange hatten sie es nicht durchgehalten. Das hatte nicht an mangelnder Kooperationsbereitschaft gelegen oder an ideologischen Differenzen, sondern ganz einfach an den Umständen. Nach einiger Zeit waren sie ganz automatisch in die typische Rollenverteilung der meisten Ersteltern hineingerutscht: Ein Elternteil arbeitete, der andere blieb zu Hause. Phil war derjenige gewesen, der weitergearbeitet hatte. Natürlich hatte er seinen Anteil an den häuslichen Pflichten übernommen, aber nichtsdestoweniger war er es, der jeden Morgen aus dem Haus gehen konnte, der noch einen anderen Lebensinhalt hatte. Marina hatte dasselbe versucht und festgestellt, dass es sie überforderte. Die Arbeit hatte ihr zu viel abverlangt. Also war sie mit dem Baby zu Hause geblieben. Und irgendwann hatte sie angefangen, ihm dafür insgeheim Vorwürfe zu machen.
Als daher die Stelle des internen Psychologen bei der Polizei von Colchester frei geworden war, hatte sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Sie wusste, dass sie die Richtige für den Job war. Sie hatte damit gerechnet, dass Phil dagegen argumentieren oder ihr Vorhaltungen machen würde, und hatte das Gespräch lange vor sich hergeschoben. Ihre Sorge erwies sich als unbegründet. Er stand voll und ganz hinter ihr, schrieb ihr sogar eine Empfehlung. Und als man ihr die Stelle tatsächlich anbot, war er derjenige, der sich an seine Adoptiveltern Don und Eileen Brennan wandte und sie fragte, ob sie nicht tagsüber auf Josephina aufpassen könnten. Sie hatten sich riesig gefreut.
Unterm Strich hatten also alle von der Situation profitiert. Marina und Phil konnten beide weiterarbeiten und eine gleichberechtigte Beziehung führen, Don und Eileen fühlten sich gebraucht, und Josephina bekam so viel Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Die Abende, die sie nun zu dritt verbrachten, waren für Marina umso kostbarer und schöner. Für Phil auch, das wusste sie.
»Ich bin eine berufstätige Frau mit Familie«, hatte Marina zu ihm gesagt. »Ich bin der schlimmste Alptraum der Daily Mail . Allein das ist es schon wert.«
Phil hatte lachend zugestimmt.
Marina musste bei der Erinnerung lächeln.
Es lief gut. Zu gut. So viel Glück hatte sie noch nie gehabt. Irgendetwas würde passieren und alles kaputtmachen. So war es immer.
»Alles in Ordnung?«, wollte Anni wissen.
Marina fuhr blinzelnd herum, verscheuchte ihre Gedanken und war wieder im Krankenhausflur. »Ja, alles klar. Ich habe bloß nachgedacht.«
Anni wandte sich an die Ärztin. »Ich habe Marina kommen lassen, weil sie Psychologin ist.«
»Ich glaube, wir werden Sie brauchen«, lautete Dr. Ubhas Antwort.
»Aber ich bin keine Kinderpsychologin«, gab Marina zu bedenken. »Ich arbeite bei der Polizei.«
Dr. Ubhas Blick ging zur geschlossenen Tür des Krankenzimmers. »Bei dem, was der arme Junge durchgemacht hat, brauchen wir Sie trotzdem, würde ich sagen.«
»Sehe ich genauso«, pflichtete Anni ihr bei. »Für diesen Fall hier müssen Sie unbedingt mit ins Team. Selbst wenn Sie bei dem Jungen nicht viel erreichen, können Sie uns dabei helfen rauszufinden, wer ihn in den Keller gesperrt hat. Sie wissen schließlich, wie solche Leute ticken.«
Marina nickte. Im Geiste sah sie Josephinas lächelndes Gesicht vor sich. Sie kniff kurz die Augen zusammen, damit es verschwand. Dann schluckte sie schwer. Konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. »Was kann ich tun?«
»Ich werde damit anfangen, die Liste aller als vermisst gemeldeten Kinder durchzugehen«, sagte Anni. »Das ist das eine. Und dieses, dieses …«, sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen, »… dieses Ding an seinem Fuß zu überprüfen. Vielleicht gab es so was Ähnliches schon mal irgendwo. Wenn Sie fürs Erste hierbleiben könnten und …«
Aus dem Zimmer des Jungen ertönte Lärm. Ein Schrei. Die drei Frauen sahen einander an.
»Er wacht auf«, sagte Anni. »Los, kommen Sie.«
Gemeinsam eilten sie zurück ins Krankenzimmer.
11 Neben dem Haus hatte man bereits das weiße Zelt errichtet, um Beweisstücke zu schützen und Zaungästen die Sicht zu versperren.
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