Stirb, mein Prinz
Zeit immer weiter die Kontrolle verlieren. Als wollten sie ganz bewusst Fehler provozieren, weil sie sich insgeheim wünschen, dass man sie fasst und ihrem Treiben ein Ende setzt …« Sie strich über die knöchernen Gitterstäbe. »Aber hier nicht …« Streichelte und streichelte sie. Sanft, bedächtig. »Hier spüre ich … Kontrolle. Feierlichkeit. Schliff. Vollendung. Die Suche nach Vollendung …« Noch immer streichelte sie die Gitterstäbe, liebkoste sie geradezu. »Viele Täter hören auf, wenn sie älter werden«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht viel lauter war als ein Flüstern. »Aber er nicht. Er macht das schon lange. Und zwar aus einem ganz konkreten Grund.«
»Was für ein Grund soll das sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber er hält ihn für sehr wichtig. Es geht ihm nicht nur um seine persönliche Befriedigung.«
»Aber ich dachte, alle Serienmorde sind im Kern sexueller Natur.«
»Ja, das trifft auch meistens zu.«
»Und?«
»Ich will nicht behaupten, dass seine Taten ihn nicht sexuell erregen. Nur dass es weit darüber hinausgeht. Und da ist noch etwas anderes, was wir bedenken müssen.«
»Was?«
»Ich glaube nicht, dass er aufhören wird.«
28 »Es sei denn, wir hindern ihn daran«, sagte Phil. »Es sei denn, wir fassen ihn und machen dem Ganzen ein Ende.«
»Ja«, sagte Marina und drehte sich zu ihm um, als käme sie aus einer Trance. »Das stimmt.« Sie schenkte ihm ein kleines, angespanntes Lächeln. »Aber das ist deine Aufgabe.«
»Also kein Druck. Gott sei Dank«, meinte er. Marina fand, dass er so aussah, als bestünde er aus nichts anderem als Druck. Seit sie ihn am Morgen zuletzt gesehen hatte, schien er um Jahre gealtert zu sein.
Sie musste etwas sagen, mit ihm reden. »Phil, sag mal, was –«
»Bitte«, wehrte Phil ab. Seine Stimme war schwach, kaum hörbar. »Nicht hier. Nicht jetzt.«
»Aber wann dann?« Sie legte ihm sacht die Hand auf den Arm. »Was ist denn los?«
Er seufzte. Wie Atlas, der die Welt abwirft. »Ich kann nicht …«
»Phil. Ich bin es. Ich.« Sie fing seinen Blick ein. »Mir kannst du es sagen.«
Seine Augen versuchten vergeblich, sie direkt anzuschauen. Stattdessen zuckten sie umher, als stünden sie unter Strom. »Ich … ich kann nicht. Nicht jetzt.« Noch ein Seufzer. »Ich weiß nicht mal …« Sein Kopf fuhr in die Höhe. »Nein. Komm, lass uns … wir haben jede Menge Arbeit vor uns. Komm.«
»Also gut … aber –«
»Wie ist er hierhergekommen?« Phils Stimme klang scharf, brüsk.
»Was?«
»Der Junge. Wie ist er hierhergekommen? Wenn das hier eine Wartezelle ist, dann kann er noch nicht lange hier gewesen sein.«
Sie sah ihn an. Noch nie hatte er sie so ausgeschlossen. »Ja«, sagte sie. »Also. Der Junge. Gut … okay. Folgendes: Er konnte ja wohl kaum mit ihm am helllichten Tag einfach hier reinspazieren, oder?«
»Nein, wohl kaum. Und das Grundstück ist eingezäunt. Es gibt keinen Eingang.«
»Die Straße fällt also schon mal weg. Es sei denn, es war nachts, und dann hätte er Verdacht erregen können. Da gibt es noch einen anderen Weg, an den Schrebergärten vorbei. Wo führt der hin?«
»Zu einem Wohnblock am Hythe. Aber er ist schlecht beleuchtet und mit Gestrüpp überwuchert. Ein Paradies für jeden Straßenräuber. Und er führt am Fluss entlang.«
»Siehst du, da hast du es.«
»Was – er ist über den Weg gekommen?«
»Nein. Über den Fluss. Das Haus hier steht mit der Rückseite zum Ufer. Er hätte mit einem Boot anlegen und den Jungen unbemerkt von Bord schaffen können.«
Phil rieb sich das Kinn und ging im Keller auf und ab. »Könnte sein …« Er wandte sich zu Marina um. »Was du vorhin gesagt hast. Über die Natur. Kreisläufe. Könnte der Fluss was damit zu tun haben?«
»Durchaus möglich.«
»Aha …« Er ging weiter auf und ab. »Dann bliebe noch eine Frage.«
»Welche denn?«
»Wo hat er den Jungen her?«
Marina lächelte dünn. »Das musst du rausfinden. Du bist der Ermittler. Ich bin nur die Profilerin.«
»Aber du hast mit ihm geredet.«
»Ich weiß. Und es wird noch lange dauern, bis er uns nützliche Hinweise geben kann.«
Sie standen da und schwiegen.
»Ich schreibe noch einen offiziellen Bericht«, verkündete sie schließlich. Dann sah sie auf die Uhr. »Ich muss jetzt los, Josephina abholen.«
Phil erzählte ihr, dass er mit Don gesprochen hatte. Er und Eileen würden noch etwas länger auf ihr Enkelkind aufpassen.
»Gut. Das hält uns den Rücken frei.«
Wieder Schweigen.
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