Stirb, mein Prinz
niemanden, auf den die Beschreibung des Jungen passt. Wir haben uns auch die Kinderheime und Jugendeinrichtungen vorgenommen. Bis jetzt Fehlanzeige.«
»Er wird auf jeden Fall noch einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen«, sagte Anni. »Er ist sehr schwach. Er wird intensiv psychologisch betreut, und hoffentlich kann er uns bald einige Anhaltspunkte liefern. Außerdem wurde er natürlich ärztlich untersucht. Die ersten Testergebnisse liegen schon vor.« Sie seufzte. »Er ist extrem unterernährt, quasi Dritte-Welt-Level, und seine Immunabwehr ist stark geschwächt. Man hat ihm hohe Dosen Antibiotika verabreicht. Wo auch immer er gefangen gehalten wurde, seine Gesundheit hat furchtbar darunter gelitten.«
An ihrer weichen Stimme erkannte Phil, dass die Begegnung mit dem Jungen sie sehr mitgenommen hatte. Es überraschte ihn nicht. Der Anblick eines Kindes in einem solchen Zustand hätte jeden erschüttert, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich hatte.
»Die vorläufigen Ergebnisse der DNA -Tests haben wir auch schon reinbekommen«, fuhr Anni fort. »Keine Treffer. Nichts. Nicht mal Ähnlichkeiten. Es ist, als ob … er einfach aus dem Nichts gekommen wäre. Aber solange wir noch nicht wissen, wer er ist oder wieso er da unten im Keller war, müssen wir davon ausgehen, dass irgendjemand nach ihm sucht. Sein Zimmer wird rund um die Uhr bewacht.«
»Danke, Anni.«
»Eine Sache noch.« Sie nahm ein Foto und legte es vor sich hin. »Das hier befindet sich unter seiner Fußsohle. Eine Art Narbe. Scheint ein Brandzeichen zu sein.«
»Was?«, sagte Mickey. »Wie bei Kühen?«
»Sieht so aus, ja. Ich prüfe gerade, ob früher schon mal Leichen mit ähnlichen Malen am Körper aufgetaucht sind. Bis jetzt habe ich nichts gefunden.«
Sie nahm wieder Platz.
»Die Ergebnisse der forensischen Untersuchungen aus dem Keller sind noch nicht da«, ergriff Phil erneut das Wort. »Es sind noch einige Tests nötig, um festzustellen, ob die Knochen menschlichen oder tierischen Ursprungs sind. Dasselbe gilt für das Blut, das im Keller gefunden wurde. Also. Marina?« Er sah zu ihr hin. Als ihre Blicke sich trafen, fuhr sie zusammen, als hätte er sie körperlich berührt. Der Riss in seinem Herzen wurde noch ein Stück tiefer. »Möchtest du uns jetzt deinen Bericht zum Tatort vorstellen?«
Marina hatte den Blick fest auf ihren Bericht geheftet, als sie aufstand. Phil war froh darüber. Bestimmt hatte jeder im Raum gemerkt, dass zwischen ihnen irgendetwas nicht stimmte. Wahrscheinlich beobachteten sie sie jetzt alle und registrierten jedes ihrer Worte – und das nicht aus beruflichen Gründen.
»Nun«, sagte sie. »Die meisten von Ihnen wissen ja, was außer dem Jungen sonst noch am Tatort gefunden wurde. Der Käfig. Die Gartengeräte. Die Blumen. Ich habe mich zunächst mal auf die seltsamen Symbole an den Wänden konzentriert und versucht, sie zu analysieren. Ich glaube, wenn wir wissen, was sie bedeuten, wird uns das dabei helfen zu verstehen, warum der Junge im Keller war und wer ihn dort festgehalten hat.«
Glass nickte und hörte aufmerksam zu.
»Alles deutet darauf hin, dass es sich um eine Art Kalender handelt. Einen Wachstumszyklus. Auch die Blumen legen das nahe. Auf diesem Kalender scheinen die Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden besonders hervorgehoben zu sein. Die herbstliche Tagundnachtgleiche steht im Übrigen kurz bevor, und wenn mich nicht alles täuscht, heißt das, dass der Junge wichtig ist. Sehr wichtig. Wer auch immer ihn in den Keller gesperrt hat, hatte etwas ganz Konkretes mit ihm vor. Etwas, das mit der Tagundnachtgleiche zu tun hat.«
»Meinen Sie eine Opferhandlung oder so was in der Art?«, wollte Mickey wissen.
Marina zuckte mit den Schultern. »Ich will keine Mutmaßungen anstellen, aber es ist gut möglich. Der Junge war eingesperrt, als würde er für etwas bereitgehalten. Der Käfig war eine Wartezelle. Ich bin mir relativ sicher, dass er davor irgendwo anders gefangen gehalten wurde. Man hat ihn ausschließlich für den Vollzug des Rituals in den Keller verlegt. Die Blumen sind ein weiterer Hinweis darauf. Sie haben ganz bestimmte Farben. Rot, Blau, Gelb, Weiß. Meine Vermutung ist, dass diese Farben Körperausscheidungen symbolisieren sollen. Blau und Rot für Blut, Gelb für Urin. Wenn die Blumen welken, werden sie braun. Den Rest können Sie sich selbst zusammenreimen.«
Niemand lachte.
»Aber wieso ausgerechnet dort?« Auch diese Frage kam von Mickey. »Wieso in diesem
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