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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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erst mit achtzehn Jahren Zugang haben. Es machte sie wahnsinnig, denn sie wusste nicht einmal, wie ihr richtiger Nachname lautete.
    Dann ertastete sie unter den Papieren etwas aus Plastik. Es war eine eine alte Supermarkttüte, die sie nun hervorzog. Sie war leicht und enthielt etwas Weiches. Ihr Herz fing an schneller zu klopfen. Sie griff in die Tüte, fühlte Wolle und spürte Freude aufsteigen. Es war, als sei sie aus der Fremde nach Hause gekommen.
    Als sie die fliederfarbene Strickjacke hervorholte, brannten ihre Augen. Sie hatte ihre geliebte Jacke wiedergefunden, abgetragen und schlecht gestrickt, wie sie war. Das Teil hatte sie damals über ihr Nachthemd gestreift, als sie Mr   Wildings Zimmer betrat und ihre Mummy dort entdeckte. Wahrscheinlich hatte sie die auch bei ihrer Ankunft hier getragen. Alice drückte den Stoff an ihr Gesicht, küsste ihn und schmiegte ihre Wange an die weiche Wolle. Seit zwölf Jahren befand sich die Jacke nun in der Tüte und roch trotzdem noch wie früher – wie Mummy und das Zimmer, das sie geteilt hatten.
    Alice entfaltete die Jacke auf ihrem Schoß und hielt sie vor sich. Die Ärmel reichten ihr nur noch bis zum Ellbogen, der Saum endete knapp unter ihrer Brust. So klein war sie damals also gewesen. Sie betrachtete die unregelmäßigen Strickreihen, die gefallene Masche, die zu einem Loch geworden war, und wusste wieder, wie sehr ihre Mummy sie geliebt hatte. Dann öffnete sie den perlenartigen Knopf, breitete die Jacke aus und erinnerte sich daran, wie es gewesen war, die Jacke zu tragen. Im Kragen entdeckte sie das weiße Band, das nur an einem Ende festgenäht war und lose herunterhing. Es war für ihren Namen gewesen, denn sie hatte die Jacke im Kindergarten getragen, und in jedem Kleidungsstück musste der Name des Besitzers stehen. Ihr Herz machte einen Satz.
    Der Name war nicht aufgedruckt, sondern mit der Hand geschrieben worden. Es war das erste und letzte Mal, dass sie die Handschrift ihrer Mutter sah. »Alice Mariani«, stand da.
    Diesen Nachnamen hatte Alice vergessen gehabt. Sie hatte nur noch gewusst, dass alle ihre Mummy Matty genannt hatten, den Rest hatte sie sich mit vier Jahren noch nicht merken können. Der Nachname gefiel ihr. Er klang italienisch und kultiviert und viel aufregender als Dunn. Diesen Namen hatte man ihr vor zwölf Jahren aufgehalst, ein stumpfsinniger Name, bei dem man sofort an Bauern und Arbeiter dachte.
    Die Zeugnisse und Bilder legte Alice wieder in den Karton, die Strickjacke jedoch nicht. Sie gehörte ihr und hätte ihr niemals weggenommen werden dürfen. Danach wollte sie keine Zeit mehr verlieren. Hatte sie nicht lange genug gewartet? Sie versteckte die Jacke in ihrem Zimmer ganz hinten im Schrank. Dann lief sie hinunter in den Flur. Als sie neben dem niedrigen Telefontischchen stand, warf sie einen Blick in die Küche. Ihre Mutter hatte sich in die hinterste Ecke manövriert und schrubbte mit schweißglänzendem Gesicht das letzte Stück Fußboden.
    Im örtlichen Telefonbuch stand niemand, der Mariani hieß. Doch Alice gab nicht auf. Sie ging in die öffentliche Bibliothek, wo sich die Telefonbücher des ganzen Landes befanden. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte sie alle durchgeschaut. Schon beim sechsten wurde sie fündig. In Norwich gab es jemanden mit dem Nachnamen Mariani, sogar mit der dazugehörigen Adresse.
    Eigentlich war alles ganz einfach. Sie hatte den Namen, die Adresse und die Telefonnummer. Schon nach einer einzigen Begegnung mit deren Besitzer würde sie erfahren, wer sie war.
    Trotzdem war dieser Anruf das Schwierigste, was sie jemals getan hatte. Allerdings dauerte er nicht sehr lange und blieb geschäftsmäßig. Es war, als habe ihre Großmutter darauf gewartet.
    Mrs   Mariani erklärte sich bereit, sich mit Alice zu treffen.
    Ihre Großmutter war genau so, wie Alice sie sich vorgestellt hatte, und trotzdem ganz anders. Sie war jünger, aber als Alice den Pelzmantel und die teuren Lederhandschuhe sah, passte sie wie ein fehlendes Puzzlestück in ihre Erinnerung. Das war die Frau, die damals in dem Zimmer gesessen hatte, ihr Mund sah aus wie der von ihrer Mummy. Alice wollte ihn küssen.
    Doch Küsse gab es nicht. Ihre Großmutter musterte sie. Vielleicht suchte sie in ihr nach der Toten, der sie so sehr ähnelte. Dann kniff sie die Lippen zusammen. Die Haut auf ihrer Stirn und an den Schläfen war glatt, nirgends war eine Falte zu sehen. Elegant wirkte sie und attraktiv, aber aus ihrer Miene war nichts zu

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