Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
Vom Netzwerk:
sich die Augen. Sie hatte dieses Gesicht so lange angestiert, dass sie begonnen hatte, sich davor zu graulen. Der Mann war verschwunden, nur sie war noch da, ein vertrautes Antlitz, das sie ansah.
    Letztlich sehnte sie sich danach, ihrem Vater zu begegnen, ganz gleich, wie grässlich er aussah.
    Seit dem ersten Termin bei Dr.   Murray hatte ihre Mutter sie angefleht, in eine Therapie einzuwilligen. Aber Alice brauchte keine Therapie, sie wollte nur die Wahrheit erfahren. Glaubte sie jedenfalls.
    Sie wusste, dass irgendwo eine zweite Familie existierte, mit der sie verwandt war. Ihre Mummy war gestorben, und sie war als Vierjährige adoptiert worden. Auch das war ihr bewusst, denn dass ihre Mummy tot war, hatte sie nie vergessen. Jenes Bild trug sie für immer im Herzen, ein Tableau, das dort einen Teil der Lücke füllte. Wenn sie ihre Mummy einmal vergaß, würde die Lücke größer werden.
    Doch irgendwo in der Welt da draußen gab es einen Mann, von dessen Blut sie war. Jedes Kind hatte einen Vater. Sie erging sich in Phantasien, in denen er den Schlüssel zu ihrem Glück in den Händen hielt. Vielleicht ahnte er nicht einmal, dass sie adoptiert worden war. Oder er wusste es und suchte nach ihr, ohne eine Spur von ihr zu entdecken. Deshalb wollte sie ihn finden und mit jemandem zusammen sein, der sie verstand. Jemand, der ihre Mummy ebenfalls geliebt hatte.
    Alice hatte sich von ihren Adoptiveltern entfernt und wusste, dass sie anders als die beiden war. Sie merkte es in jenem Sommer, als sie nachts im Pflegeheim arbeitete und tagsüber häufig schlief. Sie wollte dem weinerlichen Blick ihrer Mutter entgehen, ihren Bitten, sie solle Dr.   Murray aufsuchen, er könne ihr helfen. Ebenso ging sie Lee aus dem Weg und ihrer hündischen Ergebenheit. All dem wollte sie entkommen und jenen Teil von sich wiederfinden, der verloren gegangen war. Sie wollte wieder zu einem Ganzen werden, denn ihr war, als existierte sie seit Jahren nur als Stückwerk.
    Ihre Adoptivmutter hob alles auf. Alice wusste, dass sie einen Karton besaß, in dem sie wichtige Unterlagen aufbewahrte. Er befand sich an einem Platz, den ihre Mutter vor ihr geheim hielt. Alice vermutete, dass ihre Adoptionsunterlagen darin waren, womöglich mitsamt der Adresse des Sozialamts, das die Adoption eingeleitet hatte. Allerdings war es schwierig, in den Zimmern herumzuschnüffeln, denn ihre Mutter war ständig zu Hause, und überall herrschte Ordnung. Sie würde sofort merken, wenn irgendetwas nicht mehr an exakt derselben Stelle lag. Aber Alice war fest entschlossen, den Karton aufzuspüren, und wartete, bis ihre Mutter in der Küche den Fußboden scheuerte. Dazu brauchte sie jedes Mal mindestens zwei Stunden.
    Als Alice hörte, dass ihre Mutter mit den Plastiküberziehern über den Linoleumboden in der Küche lief, schlich sie sich zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu dem stickig riechenden Raum voller rosa, mit Rüschen verzierten Kissen, Porzellanpüppchen, die Hauben trugen, und Spitzendeckchen auf den Möbelstücken. Sie kniete sich vor den Toilettentisch aus Resopal und zog die unterste Schublade auf, in der die Unterwäsche ihrer Mutter lag. Sie kannte den Karton, den sie suchte. Er war blau und hatte einmal ein Herrenhemd enthalten. Zu den Unterlagen, die ihre Mutter darin sammelte, gehörten die Schulzeugnisse von Alice und die ersten Bilder, die sie in der Schule gemalt hatte. Sie hoffte, darin auch Hinweise auf ihren richtigen Vater zu finden.
    Um kein Durcheinander anzurichten, hob sie die hautfarbene Unterwäsche und die Nylonnachthemden behutsam heraus und stapelte sie ordentlich auf dem Teppich. Kurz darauf entdeckte sie den Karton. Am liebsten hätte sie ihn gepackt und wäre mit ihm in ihr Zimmer gerannt, doch das wäre nicht klug gewesen. Sie durfte sich den Inhalt nur schnell anschauen und musste alles wieder so herrichten, wie es gewesen war.
    Sie setzte sich auf den geschmacklosen Teppich, nahm vorsichtig den Deckel des Kartons ab und zog die obersten Unterlagen heraus. Darunter war eine Terminbestätigung aus der Praxis von Dr.   Murray, auf der stand, dass sie »eingeschätzt« werden solle. Alice spürte, wie ihre Wut aufloderte, und fühlte sich in ihrem Vorgehen bestätigt. Schließlich hatte alles in dem Karton irgendwie mit ihr zu tun.
    Sie fand eine Geburtsurkunde, auf der ihr Adoptivname stand: Alice Dunn. Ihre erste Geburtsurkunde lag wahrscheinlich im Aktenschrank einer Behörde. Dazu würde sie

Weitere Kostenlose Bücher