Stirb mit mir: Roman (German Edition)
sie nicht riskieren, denn in der Zeit könnte ihre Großmutter aufstehen und gehen und damit ihre Hoffnung, den Namen ihres Vaters herauszufinden, zunichtemachen.
»Ich möchte, dass du mir eins verspricht«, sagte ihre Großmutter nachdrücklich. »Dass du mich nach dem heutigen Tag nie mehr kontaktierst. Wir haben uns getroffen. Unser beider Neugier ist befriedigt. Damit ist Schluss.«
Alice musste gegen ihre Wut ankämpfen. Am liebsten hätte sie geschrien und Gläser zerschmettert.
»Betrachte das hier als Endstation und hör auf zu suchen. Alles andere führt nur zu Kummer und Leid. Geh nach Hause, Alice, und gib dich mit der Familie zufrieden, die du hast.«
Mit tränenblinden Augen sagte Alice: »Ich wette, du hast ihn davongejagt, dabei bin ich sicher, er hat meine Mutter geliebt. Bestimmt wäre es mit den beiden gut gegangen, aber du hast alles zerstört.« Die Dame am Nebentisch starrte sie nun offen an. Alice ignorierte sie. »Es ist alles deine Schuld.« Sie griff nach der Zuckerdose und warf sie auf den Boden.
Sämtliche Gäste drehten sich nach ihr um.
»Sei still!« Mrs Mariani wirkte nun nicht mehr beherrscht. Ihr Gesicht war rosig angelaufen, und man sah das Weiße ihrer Zähne. Sie beugte sich vor. »Kein Wort mehr«, zischte sie.
»Warum nicht? Weil ich die Wahrheit sage? Es ist doch deine Schuld. Du hast meinen Vater vertrieben.«
»Sei vorsichtig, Alice. Unwissen kann kostbar sein. Wenn es verloren ist, bekommt man es nicht wieder, und etwas zu wissen, ist mitunter eine schwere Last.«
»Spar dir deinen Vortrag. Du hast meine Mutter umgebracht, hast sie weggeschickt und im Stich gelassen. Du bist schuld, dass sie tot ist.«
Ringsum war es still geworden. Die Zuckerdose lag noch immer auf dem Boden.
Ms Mariani umklammerte das Handgelenk ihrer Enkelin. »Deine Mutter war eine kleine Hure.«
»Nein!« Alice riss ihre Hand zurück.
»O doch. Matilde hat sich angeboten.«
»Du bist schuld an ihrem Tod«, wiederholte Alice. »Du hast sie verstoßen.
»Ist es auch meine Schuld, dass sie meinen Ehemann verführt hat?«
»Was? … Was redest du denn da?«
»Du hast richtig gehört, Alice. Sie war kein Kind mehr, sondern siebzehn Jahre alt. Deine Mutter war eine Schlampe, deshalb sind dein Vater und dein Großvater auch ein und dieselbe Person.«
Alice war betrunken, denn einen anderen Weg, ihren Schmerz zu betäuben, kannte sie nicht.
Zwei Espresso hatte ihre Großmutter getrunken. So viel Zeit hatte sie ihrer Enkelin gewidmet, doch während der wenigen Minuten war das Ich von Alice in tausend Stücke zersprungen. Sie unterschied sich von anderen Menschen, das wusste sie, aber bisher hatte sie die Adoption für den Grund gehalten. Jetzt erkannte sie, dass es etwas viel Schlimmeres war und sie deshalb von jeher eine Außenseiterin gewesen war.
Es war das Inzestuöse ihrer Gene, das zu dicke Blut.
Ihre Mutter war missbraucht worden, und sie war das Ergebnis. Nein, schlimmer noch, ihre Mutter war von ihrem Vater vergewaltigt worden. Aber wenn ihre Mutter das Opfer und ihr Vater ein Ungeheuer gewesen war, was machte das dann aus ihr? Kein Wunder, dass sie sich betrunken hatte.
Bei dem Scheck ihrer Großmutter handelte es sich um Blutgeld. An ihm haftete das Blut ihrer Familie, verklumpt und dickflüssig. Er bedeutete, dass sie verschwinden sollte. Sie war das Problem, das aus dem Weg geräumt werden musste. Mithilfe eines riesigen Betrags, der für ihr Studium ausreichen würde, sogar für ein eigenes Haus. Mit der hohen Summe beglich ihre Großmutter ihre Schuld. Den zahlte sie, weil sie ihre Tochter im Stich gelassen hatte, ihr eigenes Kind. Alice hatte den Scheck angenommen und dabei gedacht: Der steht mir zu.
Wieder zu Hause, bei den Menschen, die sie aufgenommen hatten, als sie erst zur Hälfte geformt war, begriff sie, dass dieses stille Haus alles war, was sie hatte. Es gab keine Rettung, kein märchenhaftes Ende.
In ihrem Zimmer strich sie die Bettdecke glatt und legte sich hin. So ist das also, dachte sie. Endlich bist du aufgewacht.
Wie hoch die Summe auf dem Scheck war! Sie konnte eine Burg davon kaufen, um sich vor allem Bösen zu schützen. Auch vor dem Mann mit der Axt, der vor ihrem Fenster lauerte. Außer dem Scheck würde sie noch etwas verwenden, nämlich den anderen Namen. Den schönen Nachnamen ihrer Mutter – und ihres Vaters. Sie würde sich Alice Mariani nennen, um zu zeigen, wer sie war, und um herauszufinden, ob er das Gift in ihrem Blut zum Vorschein
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