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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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erkannte sie plötzlich, dass das Bild ihr eigenes Zimmer zeigte und sie selbst die Figur darin war. Als sie zögernd das letzte Teil anlegte, entdeckte sie, dass draußen vor ihrem Fenster ein Mann eine Axt schwang. Das letzte Geräusch, das sie hörte, war splitterndes Glas.
    Ich fing an zu weinen und hörte erst auf, als mein Vater kam, um mich abzuholen. Danach wurde ich nie wieder zu einer Pyjamaparty eingeladen.
    »So«, sage ich zu Lee. »Jetzt kennst du mein Geheimnis. Ich fürchte mich vor dem Mann, der mit der Axt draußen vor dem Fenster steht.«
    Sie küsst mich zärtlich, als wäre ich ein Kind. »Nein«, sagt sie. »Du fürchtest dich davor, das letzte Puzzlestück zu finden.«
    Lee legt sich auf mich. Ich spüre die festen Muskeln ihrer Schenkel. Ihre Finger bewegen sich in mir. In Bezug auf meinen Körper ist sie eine Expertin. Sie öffnet mich weit, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich schmecke ihren salzigen Schweiß.
    »Mach ein Geräusch«, verlangt sie.
    Wie Atemluft steigt ein Laut in meiner Kehle auf, doch ihre Hände, ihr Rhythmus treiben mich an.
    »Lauter«, sagt sie, und ich gehorche.
    Sie beißt mir in die Schulter, mein Mund öffnet sich, und dann kommt das Geräusch, mein Geräusch, das sie mit einem tierischen Schrei erwidert. Ich bin mit ihr vereint. Nicht in meinem Kopf, sondern mit meinem Körper. Ich bin in ihren Händen, während sie höher steigt und zustößt, bis ich merke, dass ich ebenfalls aufsteige, höher und höher, mit ihr gemeinsam, und dass ich wie sie schreie. Ich sehe ihre Augen, spüre ihre Hände, ihr Gewicht auf mir und falle, falle, falle.
    Wir sind reglos, einzig unser Atem ist zu hören. Sie lächelt. Ich erwidere ihr Lächeln. Unsere Körper sind miteinander verbunden wie die Zeilen eines Gedichts.
    Ich spüre, dass ich in Lees Welt hineingleite, in ihre Hoffnungen. Sie begehrt mich, möchte mit mir zusammen sein. Ich bin dabei, mich daran zu gewöhnen. Zwischen uns existiert nur Wärme und Haut. Mir kommt der Gedanke, dass ich mich geirrt habe, dass es mir nie um Smith ging, sondern um Lee, die von jeher auf mich gewartet hat. Heißt es nicht, der Orgasmus sei ein kleiner Tod? Um Mitternacht schmerzlos verlöschen …
    Ich hatte die Wahl zwischen Smith und Lee. Zwei Liebende, zwei Möglichkeiten. Ich entschied mich für Smith, doch der Mensch, nach dem ich in Wahrheit gesucht habe, ist meine Mutter.

Fünfunddreißig
    1994    Alice war siebzehn, als sie beschloss, ihren Vater zu suchen. Sie hatte ihre Mummy verloren, aber wenigstens gewusst, wer sie war. Ihre Mutter hatte sie geliebt. Die Lücke, die schmerzende Leerstelle in ihrem Herzen, musste demnach an dem fehlenden Vater liegen. Wer war er? Wo war er? Wie alt? Oder war er vielleicht sogar schon tot? Sie wusste nichts über ihn, hatte keinen, den sie verurteilen, abweisen oder dem sie versuchen konnte zu verzeihen. Da war nichts, außer einem blinden Fleck. Seine Abwesenheit spürte sie in ihrer Seele.
    Sie saß vor dem Spiegel und studierte die Merkmale, die sie geerbt hatte, die genetischen Hinweise. Wie sie wusste, hatte sie das aschblonde Haar ihrer Mutter, ebenso die Augen, grün wie bei einer Katze. Und sie hatte ihren Mund, rosig und voll, mit einer perfekt geschwungenen Oberlippe. An das Aussehen ihrer Mutter erinnerte sie sich gut. Sie erinnerte sich auch noch an die feine Dame in ihrem kleinen Zimmer, die Mummy Geld anbot. Und sie zum Weinen brachte. Es war deren Mund, den sie und ihre Mutter geerbt hatten. Gab es sonst noch etwas? Die Dame war hochgewachsen, ihre Mutter eher von mittlerer Größe oder sogar kleiner als der Durchschnitt. Neben Mr   Wilding hatte sie winzig gewirkt. Alice fuhr mit den Fingerspitzen über ihre glatte, gewölbte Stirn, jene Rundung in ihrem Profil, die etwas Südländisches hatte. Eine solche Stirn hatte Mummy nicht gehabt, ihre war flach gewesen, dafür das Kinn spitzer. Die Stirn musste sie also von ihrem Vater geerbt haben. Das war sein Beitrag zu ihrer genetischen Codierung.
    Alice barg den Kopf in den Händen und grübelte über das Aussehen ihres Vaters nach. An die freie Stelle auf ihrer Geburtsurkunde setzte sie eine schemenhafte Figur, einen Geist, den sie heraufbeschwören wollte, als sei sie ein Medium. Bitte, komm und zeig dich.
    Sie hob den Kopf und starrte auf ihr Spiegelbild, bis ihre Gesichtszüge verschwammen und sie einen Mann erkannte, der sie seinerseits anstarrte. Seine Miene verzerrte sich auf groteske Weise. Alice erschrak und rieb

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