Stirb mit mir: Roman (German Edition)
kein Kind mehr.«
»Wie?«, fragte Matty die freundliche Frau. »Wie kann ich es behalten?«
Mattys neugeborenes Baby lag still hinter den bunten Gitterstäben. Die Vliesdecke über ihm hob und senkte sich, während es schlief. Matty nahm ihre Uhr vom Wickeltisch: neun Uhr morgens. Wie ist das möglich?, fragte sie sich. Vor einer Minute war es doch noch Mitternacht. Sie schaute auf die leere Flasche auf der Kommode und versuchte auszurechnen, wann das Baby wieder hungrig war und ob es sich lohnte, bis dahin noch ein wenig zu schlafen. Allein die Sorge, dass sie dann wieder aus einem Traum gerissen würde, hielt sie davon ab. Sie sagte sich die einzelnen Schritte auf, die sie tun musste, um sich diesen Frieden zu bewahren: waschen, duschen, lesen, essen. Ihr fiel ein, dass sie sich seit zwei Tagen nicht mehr richtig gewaschen hatte, deshalb beschloss sie, ein Bad zu nehmen. Sie zog das Handtuch vom Heizkörper herunter und hastete zu dem Gemeinschaftsbad am Ende des Flurs. Ihre nackten Füße platschten auf dem billigen Linoleumboden.
Erleichtert stellte sie fest, dass das Bad leer war. Sie verriegelte die Tür und drehte den Warmwasserhahn bis zum Anschlag auf. Die alte Emaillewanne war riesengroß und begann sich zu füllen. Matty streifte ihre schmuddeligen Sachen ab und stapelte sie auf dem Toilettendeckel. Sie hatte ihre Seife vergessen, aber auf dem Waschbecken lag noch ein Stück, dünn und weiß. Ein langes schwarzes Haar klebte daran. Sie warf die Seife ins Badewasser und kletterte in die Wanne. Das Wasser war zu heiß, brannte auf ihrer blassen Haut und rief rote Flecke hervor. Matty überließ sich der Hitze.
Anschließend schlüpfte sie in ihren Bademantel und kehrte mit noch feuchtem Körper in ihr Zimmer zurück. Das Baby hatte sich nicht geregt. Ihr war also noch ein bisschen Frieden vergönnt. Vorsichtig stieg sie in ihr Bett und hoffte, die Stille möge andauern.
Sie legte sich zurück, verlor sich in ihren Gedanken, verspürte nach dem heißen Bad leichten Schwindel und brauchte einen Moment, ehe sie begriff, dass jemand an die Tür klopfte. Aus Furcht, das Baby könne aufwachen, war sie im Nu auf den Beinen und machte auf.
Im Türrahmen stand eine füllige junge Frau, nach vorne gebeugt, als habe sie am Schlüsselloch gehorcht. Mit erwartungsvollem Blick und dem falschen Lächeln einer Kellnerin richtete sie sich auf.
Übertrieben flüsternd fragte sie: »Schläft das Baby?« Dabei glitt ihr Blick zu dem Gitterbett hinüber.
Matty gab ihr keine Antwort. Sie hatte vergessen, dass der Termin heute war.
Die Sozialarbeiterin erfasste ihre Verwirrung sofort. Ihr Blick wurde entschuldigend, ihre Stimme jedoch nicht. »Ich bin ein bisschen zu früh dran, aber ich habe auch eine Neuigkeit. Sollen wir nach unten gehen und das Baby schlafen lassen? Am besten, Sie ziehen sich etwas an.«
Matty legte den Bademantel ab, um einen weiten Rock und einen dicken Pullover überzustreifen. Die Haare kämmte sie sich nicht. In ihrem Zimmer war kein Spiegel, um sie daran zu erinnern.
Die Sozialarbeiterin führte Matty in einen Raum. Dort zwängte sie ihre Leibesfülle in einen Ohrensessel. Matty hockte sich ihr gegenüber auf die Kante eines Stuhls. Die Frau zog den Stuhl näher zu sich heran. Sogleich fühlte Matty sich gefangen. Wieder setzte die Frau ihr falsches Lächeln auf. Offenbar sollte es mitfühlend und professionell zugleich wirken.
Dann kam die unvermeidliche Frage: »Und, wie fühlen Sie sich so?« Das Wort »fühlen« sprach sie mit einem warmen Unterton aus.
Über die Einladung, sich zu offenbaren, ging Matty hinweg und zuckte nur mit den Schultern.
»Und wie geht es der Kleinen?«
Darauf musste sie antworten. Matty suchte nach den richtigen Worten. »Wir haben eine schlimme Nacht hinter uns.«
Die Frau schüttelte mitleidig den Kopf und lächelte auf ihre enervierende Weise. Damit waren die Höflichkeitsfloskeln beendet. Sie beugte sich vor und wählte aus ihrem inneren Handbuch einen weichen, gleichmäßigen Tonfall aus. »Ich bin geradewegs zu Ihnen gekommen. Wollte Sie auf dem schnellsten Weg wissen lassen, dass wir bereits eine Empfehlung haben. Das ideale Paar. Soll ich Ihnen etwas über die beiden erzählen?«
Matty war vor Hunger und Müdigkeit benommen und erfasste kaum, was die Frau ihr da mitteilte. Ihr Kopf war wie ein Vakuum, in dem die Worte zwar widerhallten, aber keinen Sinn ergaben.
»Sie sind um die dreißig und wohnen im Norden. Kinderlos. Aufgrund medizinischer
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