Stirb mit mir: Roman (German Edition)
für Matty keine Zeit. Ihr Vater musste arbeiten und kehrte erst spätabends zurück. Das Abendessen wurde wortlos eingenommen. Meist überflog ihre Mutter dabei Vereinsmitteilungen oder blätterte in ihrem Terminkalender. Matty starrte stumm auf ihren Teller. Da niemand mit ihr sprach, konnte auch sie getrost schweigen.
Mit ihrem Körper verhielt es sich anders. Er hatte eine eigene Sprache. Sieben Monate lang hatte er Mattys Schweigen mitgemacht, doch danach begann er, sich zu äußern. Seine Botschaft wurde zuerst in der Schule wahrgenommen. Mr Ferris, der Mattys anschwellende Brüste die ganze Zeit über im Auge behalten hatte, wandte sich an den Direktor, der die Nachricht an den Schulrat weitergab. Dieser beschloss, nicht mit Matty zu sprechen, sondern einen Brief an ihre Mutter zu schreiben. Er beinhaltete eine offizielle Aufforderung, sich am nächsten Tag zu einer Unterredung in der Schule einzufinden. Zu Hause kam der Brief zusammen mit einigen Einladungen und Sitzungsprotokollen des Rotary Clubs an. Ihre Mutter las ihn kurz durch, legte ihn zur Seite und fragte Matty: »Warum muss ich in die Schule kommen, Matilde? Habe ich nicht schon genug am Hals?«
Matty betete, dass ihrer Mutter die Zeit dafür fehlte, dass sie zu beschäftigt sein würde. Ihr war klar, dass es bei dieser Unterredung nur um ein einziges Thema gehen konnte. Hatte sie nicht mitbekommen, wie Miss Russel, die Sportlehrerin, sie neulich in der Dusche taxiert hatte? Ihre Röcke waren ihr allesamt zu eng geworden, was wiederum Mr Ferris aufgefallen war. Vor einer Woche hatte sie ihn und Miss Russel zusammen auf dem Schulhof gesehen. Die beiden hatten sich unterhalten und zu ihr herübergeschaut. Ihre Sünde ließ sich nicht länger verbergen.
Als Matty am nächsten Nachmittag nach Hause kam, ging sie in ihr Zimmer und wartete. Sie wusste, in diesem Augenblick würde ihre Mutter ihr Geheimnis erfahren. Matty versuchte zu lesen, las immer wieder denselben Satz, ohne ihn zu verstehen. Voller Anspannung dachte sie an das Unwetter, das ihr bevorstand, sobald ihre Mutter das Haus betrat. Ihr graute vor dem Geräusch des Schlüssels im Schloss und vor der schrillen Stimme ihrer Mutter, die sie herbeizitierte.
Nichts dergleichen geschah.
Daraufhin erfasste Matty, dass ihre Mutter ebenfalls schweigen und ein Geheimnis hüten konnte. Das Abendessen wurde zur gewohnten Zeit aufgetragen. Ihr Vater hatte bereits angerufen, um anzukündigen, dass er sich verspäte. Mutter und Tochter saßen sich gegenüber, doch Matty konnte nichts essen.
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war wie immer eine bleiche Maske, die Lippen geschminkt, ihre Haltung steif und beherrscht. Matty fragte sich, wie ihre Mutter es schaffte, dermaßen reglos zu wirken und das Geheimnis mit solcher Entschiedenheit irgendwohin zu verbannen. Es kam ihr vor, als säße ihre Mutter dem Abendessen vor und führe durch die Tagesordnung wie in einem ihrer Vereine.
»Tja«, begann sie nach der Suppe, während sie mit ruhiger Hand die Hühnerbrust auf ihrem Teller anschnitt. »Da hast du uns ja mal etwas Schönes eingebrockt. Wir werden überlegen müssen, wie wir das wieder in Ordnung bringen, Matilde. Ich vermute, du warst noch nicht bei einem Arzt.«
Ihre Mutter sprach abgehackt, wie sie es sich beigebracht hatte, um ihre italienische Herkunft zu verbergen, und betonte ihre Worte mit dem Klappern ihrer Gabel. Matty wusste, dass sie den Besuch in der Abtreibungspraxis nicht erwähnen durfte, weder dass ihr Vater sie dorthin gebracht hatte, noch dass es längst zu spät gewesen war.
»Nein, war ich nicht.«
»Dann wird das unser erster Schritt sein. Weißt du denn, wann es so weit ist?« Sie klang tonlos und dennoch streng, sodass Matty den Eindruck hatte, als verspüre sie einen eisigen Luftzug. Während sie sprach, sah sie ihre Tochter nicht an. Sie kaute, schluckte, trank einen Schluck Wein. Nach einer Weile war auf ihrem Teller nur noch das weiße Gerippe der Hühnerbrust übrig.
Matty wusste genau, wann ihre Periode ausgesetzt hatte. Das war vor sieben Monaten gewesen. Sie antwortete so leise, dass ihre Mutter sich zu ihr vorbeugen musste. »Ich glaube, in drei Monaten.«
»Du dummes Mädchen. Wie konntest du nur so lange warten.« Ihre Mutter nahm noch einen Schluck Wein und schob den Teller fort. Sie betupfte ihren feuchten Mund mit einer gefalteten Serviette. »Du wirst eine Zeit lang verreisen. Es soll da eine Einrichtung für Mädchen in deinem Alter geben. Wenn du
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