Stirb mit mir: Roman (German Edition)
aufbegehren und ihm die Ungerechtigkeit dieses vorzeitigen Todes anlasten oder aber diese Erfahrung umwandeln, sie neu bewerten und als etwas Segensreiches erkennen. Eine derartige Reaktion zeigen übrigens nicht nur Künstler. Auch wir anderen empfinden so. Wenn Sie auf einem Friedhof das Grab eines Kindes sehen, wird der Grabstein Ihnen unweigerlich vermitteln, dass das tote Kind zu gut für diese Welt war. Ein Engel. Mit dem Tod alter oder gebrechlicher Menschen rechnen wir und betrachten ihn daher als normales Ritual des Übergangs. Den Tod eines Kindes oder eines jungen Menschen erleben wir dagegen als etwas Schreckliches. Er wirkt auf uns wie ein Fehler in der natürlichen Ordnung der Welt. Ein solcher Tod stellt unsere Auffassung des Lebens und von Gott infrage. So erging es anfänglich auch Keats. Doch dann machte der tragische Tod seines Bruders aus ihm ein Genie. Er selbst starb übrigens im Alter von sechsundzwanzig Jahren.«
Die Kamera erfasst die erste Reihe. Am linken Rand des Bildschirms sieht man einen der Studenten aus Übersee, der sich mit professioneller Geschwindigkeit Notizen macht.
Ich verfolge meine Darbietung liebend gern und bin mir bewusst, dass Cate an meiner Seite sitzt. Auch sie hört der gelehrten, sprachgewandten Person auf dem Bildschirm konzentriert zu. Der Eindruck, den ich dort erwecke, ist der einer schönen, schlanken, klugen Frau. Sowohl für Cate als auch für die Studenten, die wie gebannt dasitzen, muss es aussehen, als hätte ich alles, was man sich nur wünschen kann.
»Keats war der Meinung«, schließe ich und blicke dabei direkt in die Kamera, »dass der Tod von großer Schönheit sei. Er sprach vom schmerzlosen Verlöschen um Mitternacht und sah darin einen Weg, dem zermürbenden Wirken der Zeit zu entgehen. Denken Sie an einen Menschen, der auf dem Höhepunkt der Liebe stirbt. Fragen Sie sich, ob es einen besseren Weg gibt, ihre Reinheit zu bewahren.«
Bei diesen Worten ist meine Stimme lauter und vor Bewegtheit brüchig geworden. Ich werfe einen Blick zur Seite und frage mich, ob es Cate auch aufgefallen ist.
Auf dem Bildschirm tritt ein Moment der Stille ein, ehe die Studenten sich wieder regen, anfangen zu plappern, ihre Sachen zusammenraffen und den Saal verlassen. Einige von ihnen bleiben noch da und lungern um das Pult herum, als wollten sie mich etwas fragen. Ich ignoriere sie, damit beschäftigt, meine Unterlagen einzusammeln. Wenig später verziehen sie sich einer nach dem anderen. Die Show ist vorbei.
Ich stehe auf, schalte den Fernseher aus und mache das Licht an.
Cate bleibt sitzen und sagt: »Das war sehr beeindruckend.«
Auf dem Weg zur Tür stellen wir fest, dass wir nicht allein waren. Zuerst höre ich nur ein Schnarchen. Dann entdecke ich in den hinteren Reihen eine zusammengesunkene Gestalt und rufe: »Alex?«
Sein Kopf fällt nach hinten. Von seinen halb geöffneten Augen ist nur das Weiße zu sehen, auf seinen Wangen die roten Abdrücke seiner Fingerknöchel. Er ist betrunken und schläft.
»Der Himmel allein weiß, wie er es ins zweite Jahr geschafft hat«, murmele ich und werfe Cate einen Seitenblick zu.
Sie betrachtet Alex nachdenklich.
Da öffnet er die Augen. Seine Pupillen sind geweitet, die Lippen aufgesprungen.
»So ist Alex immer«, erkläre ich. »Es sei denn, er ist aufgedreht, dann kann man ihn gar nicht mehr zum Schweigen bringen. Aufgrund seiner Stimmungsschwankungen nehme ich an, dass er mal diese, mal jene Drogen nimmt.«
»Kann man ihm denn nicht helfen? Gibt hier keine Drogenberatung?«
Alex geht es miserabel. Er versucht, seinen Blick zu fokussieren, und schwankt auf seinem Sitz.
»Wenn er will, steht ihm Hilfe zur Verfügung, aber er möchte keine. Er wird in diesem Jahr durchfallen und das Studium abbrechen müssen. Eine Graduierungsfeier wird es für ihn nicht geben. Kommen Sie, wir können ohnehin nichts für ihn tun.«
Ich steuere die Saaltür an und höre, wie er »Miststück« sagt. Cate bleibt stehen und rechnet zweifellos damit, dass ich ihn zurechtweise.
»Wir gehen«, sage ich nur und wende mich ab, doch Cate ist zu langsam.
Ehe wir den Saal verlassen, ruft Alex: »Miststück und Mörderin.«
Ich bin schon auf dem Flur und laufe weiter.
Cate holt mich ein. »Werden Sie des Öfteren auf die Weise angepöbelt? Warum haben Sie ihn nicht zur Rede gestellt?«
Ich drehe mich nicht um, sondern gehe noch schneller. »Kommen Sie, Miss Austin, ich habe nur noch eine halbe Stunde, ehe ich mich an die
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