Stirb mit mir: Roman (German Edition)
betrachtete austauschbare Körper, allesamt dünn, die Münder allesamt schmollend.
Als der Pinsel ihr über den Nacken strich, schlug sie die Zeitschrift zu und blickte in den Spiegel. Hinter ihr stand die Frisörin und betrachtete ihr Machwerk mit sichtlichem Stolz. Auch Amelias neue Freundin spähte zu ihr hinüber.
»Sie haben tolle Gesichtszüge«, erklärte die Frisörin fachmännisch und rieb Wachs in Cates Haarspitzen. »Kurzes Haar passt zu Ihnen. Tragen Sie es nie wieder lang. Schauen Sie nur, was aus Ihnen geworden ist.«
Über Cates Ohren war das Haar jetzt raspelkurz. Das Deckhaar schmiegte sich gestuft um ihren Hinterkopf, und der fedrige Pony reichte ihr bis zu den Brauen. Ihre Augen wirkten riesengroß. Cate erkannte sich kaum wieder.
Anschließend machte sie sich mit Amelia zu einem Besuch auf. Sie hatte ihn so lange wie möglich aufgeschoben, aber mittlerweile war Tims Baby schon zwei Wochen alt, und sie wollte wenigstens der Höflichkeit Genüge tun. Es war eine Scharade, die sie ihrer Tochter zuliebe aufführen würde. Das Neugeborene war immerhin Amelias Halbschwester.
Als Tim die Tür öffnete, blieb ihm der Mund offenstehen. Cate wurde unsicher und betastete ihr kurzes Haar. Auf Zehenspitzen führte er sie ins Wohnzimmer, wo das Baby schlief. Es lag in einem Körbchen, das innen mit rosa Baumwollstoff ausgeschlagen war. Cate war noch nie in diesem Wohnzimmer gewesen. Wenn sie Amelia ablieferte oder einsammelte, blieb sie immer an der Haustür stehen, ohne die Schwelle zu übertreten. Jetzt sah sie sich neugierig um. Der Raum war übersät von Blumensträußen, und überall lagen Glückwunschkarten herum. Unter der Decke schwebte ein Luftballon, auf dem Es ist ein Mädchen stand.
Zufrieden stellte Cate fest, dass Sally am Ende ihrer Kräfte zu sein schien – wie eine Forschungsreisende nach einer aufreibenden Expedition. Ihre Frisur war eine Katastrophe, das Hauskleid ein formloser Sack. Cate reichte Amelia das Geschenk und die Glückwunschkarte. Das Mädchen stürzte damit zu Sally, kletterte auf ihren Schoß und bestand darauf, das Geschenk selbst auszupacken. Sally küsste Amelia. Doch dann schien ihr bewusst zu werden, dass Cate da war, und sie errötete. Ihr Blick glitt über Cates neue Frisur.
»Wie geht es dir«, fragte sie.
»Danke, gut.«
Ein minimaler Austausch. Sally hatte mit Tim schon geschlafen, als er noch mit Cate zusammenlebte. Er hatte sie verlassen, als Amelia sechs Wochen alt war. Na , hätte Cate am liebsten gefragt, wie würdest du dich fühlen, wenn er in vier Wochen die Biege machen würde? Dann säßest du hier allein mit einem schreienden Baby, die Milch würde aus deinen Brüsten sickern, dein Bauch würde hängen, und das alles in einer Phase, in der du nichts so sehr brauchst wie Liebe und Fürsorge. Einen schlimmeren Zeitpunkt hätte Tim sich damals für seinen Abgang nicht aussuchen können. Cate hoffte, dass Sally sich noch immer schämte, aber wahrscheinlich tat sie es nicht. Wenn diese Frau ein Gewissen hätte, dann wäre sie nicht mit dem Mann einer anderen ins Bett gegangen.
Von all dem wusste Amelia nichts, denn Cate wollte ihre Tochter nicht mit ihrer Wut vergiften und behielt ihre Gefühle und Gedanken für sich. Amelia sollte eine unbeschwerte Kindheit verleben, alles andere zählte nicht. Als Cate das Haus schon verlassen hatte, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, sich nach dem Namen des Babys zu erkundigen.
Zehn
Sie, die Sie entschieden haben, mich anzuhören, werden das, was jetzt kommt, sicher verstehen. Cate und ich befinden uns in einem Auditorium der Universität. Der Raum ist abgedunkelt, vor uns steht ein Fernseher. Wir sitzen in der ersten Reihe. Ich stelle den Fernseher an und drücke auf Play . Der Bildschirm erwacht zum Leben. Man sieht mich vorn in einem Saal voller Studenten.
»Keats war der Tod nicht fremd«, beginne ich, während die Kamera über die tuschelnden Studenten schweift. Dann werden sie still und hören mir zu. »Schon als Kind sorgte er für seine dahinsiechende Mutter. Später, als junger Mann, erlebte er den langen, vergeblichen Kampf seines Bruders Tom gegen die Tuberkulose. Diese Erfahrungen haben seine Dichtkunst geprägt. Tom war jung, stand in der Blüte seines Lebens. Für Keats, der seinen Bruder innig liebte, war dessen Tod ein Verlust für die ganze Welt, denn Tom war außerdem schön und klug gewesen. Doch der trauernde Keats erfasste, dass er die Wahl hatte. Er konnte mit Gott hadern, gegen ihn
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