Stirb mit mir: Roman (German Edition)
tun?«
Ich zögere. Ist das jetzt der richtige Moment? Irgendwann müssen wir darauf zu sprechen kommen, das weiß ich. Aber ist sie schon so weit, mich richtig zu verstehen, vertraut sie mir hinreichend? Ich atme langsam aus. »Die heilige Kommunion. Das Schneiden – und Essen.«
Röte überzieht ihr Gesicht, während sie mich beobachtet. Es wundert mich, dass sie sich nicht entrüstet. »Warum haben Sie sich damit einverstanden erklärt?«
Auf dem Flur entsteht Bewegung. Ich werfe einen Blick auf die Wanduhr. Es ist zehn vor zwei. In wenigen Minuten wird das Personal die Patienten zu den nachmittäglichen Aktivitäten zusammentrommeln.
»Alice, warum haben Sie es getan? Was war Ihr Motiv? Was war in Sie gefahren? Warum um alles in der Welt haben Sie sich dazu bereit erklärt?«
Einundzwanzig
1981 Im Schwimmbad war es unnatürlich warm. Die Stimmen der kreischenden Kinder hallten von den Wänden wider. Es klang, als riefen Tropenvögel sich über das warme Wasser hinweg etwas zu. Einige herumrennende Kinder wurden von den Bademeistern und ihren Müttern zur Ordnung gerufen, da die nassen Fliesen so glatt waren, dass man ausrutschen konnte. Die Kinder ließen sich nicht beirren, liefen platschend über den glitschigen Boden, schwatzten und kletterten auf die angestrahlte Rutsche. Selbst ihre Badeanzüge wirkten exotisch, blitzten beim Hinuntersausen violett und purpurrot auf und verschwanden unter einer Fontäne im Wasser. Die Erwachsenen standen am Rand, warteten besorgt auf das Wiederauftauchen ihrer Kinder, auf ihre triumphierenden Schreie. Im Planschbecken, ein wenig abseits von Lärm und Getümmel, paddelte ein Küken im türkis leuchtenden Badeanzug, auf dessen Brustteil ein rosa Flamingo abgebildet war. Gleich darauf stand die Kleine genau wie der Vogel wackelig auf staksigen Beinen und schaute sich unsicher um. An ihrer Seite war eine junge Frau, deren langes Haar ihr wie ein Schwert über den Rücken fiel. Auch sie wirkte exotisch. Auf den ersten Blick hätte man die beiden für zwei Mädchen, vielleicht Schwestern halten können. Erst beim näheren Hinsehen hätte ein Außenstehender erkannt, dass da gerade Mutter und Tochter das warme Wasser des Planschbeckens genossen.
Die Ähnlichkeit der beiden war dermaßen groß, dass man sofort wusste, wie die eine als Kind ausgesehen hatte und die andere in siebzehn Jahren aussehen würde. Die Mutter war noch ein Teenager. Ihr nasser Pferdeschwanz schwebte im Wasser, während sie um ihre ängstliche Tochter herumschwamm. Die letzten Zweifel an der Beziehung der beiden waren ausgeräumt, als die Kleine »Mummy, guck mal!« rief, mit den Füßen Wasser aufspritzte und die Arme mit den orangeroten Schwimmflügeln auf und ab bewegte, als mache sie sich zum Flug bereit.
Da tauchte die Mutter unter. Im ersten Moment war das Kind starr vor Schreck. Dann sah es sich suchend um, hielt panisch nach ihrem blonden Haar Ausschau und wollte, dass sie wieder auftauchte. Die Kleine sah aus wie ein verlassenes Vögelchen im Nest und wirkte ebenso hilflos.
Dann lachte sie glockenhell auf, überglücklich, weil ihre Mummy zurückgekehrt war und zwischen ihren Beinen hindurchschwamm. Die Mutter hob ihre Tochter dabei auf den Rücken und ritt mit ihr wie ein Seepferdchen durch das seichte Wasser. Als ihre Mutter auftauchte, um Luft zu holen, hatte das Mädchen sich fest an sie geklammert.
Später an diesem Tag oder vielleicht auch an einem anderen saß das Mädchen mit dem rosa Flamingo auf dem Badeanzug zu Hause in seinem Zimmer, reihte seine Puppen und Stofftiere auf und brachte ihnen Manieren bei.
»Sindy, du musst ›Bitte‹ sagen«, trug Alice ihrer Lieblingspuppe auf. »Dann kämme ich dich auch und mache dich hübsch.«
Die Puppe hatte stumpfes braunes Haar. Alice zog einen Kamm durch die dunkle Nylonmähne.
Das Zuhause der Kleinen bestand aus einem einzigen Zimmer, in dem ihre ganze Welt enthalten war. Sie hatte kein Bett, sondern einen Sessel, der abends ausgezogen wurde. Der orangefarbene Bezug kratzte, aber ihre Mutter breitete ein Laken darüber, legte ein Kopfkissen und eine Wolldecke darauf und machte so ein kuscheliges Bett daraus. Nur manchmal war sie dazu zu müde, und dann war Alice glücklich, denn das bedeutete, dass sie zu ihrer Mutter ins Bett krabbeln durfte und sich an ihren Rücken schmiegen konnte, wo sie sich warm und sicher fühlte.
Es war nur ein Zimmer, doch es war ihr Zuhause.
In dem Raum gab es außer dem großen Bett und dem
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