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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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genannt hatte. »Ich habe einmal in einem vornehmen Haus gewohnt«, hatte ihre Mummy gesagt, »in einem wunderschönen Haus für eine perfekte Familie.« Dann hatte sie gelacht, als habe sie einen Witz gemacht, den Alice nicht verstanden hatte. Offenbar gab es Witze, die nur für Erwachsene waren.
    Der Junge hinter ihr sagte »vornehm«, als sei es etwas Schlechtes, sodass Alice sich schämte, ohne zu wissen, warum. Sie schaute auf die dicken, festen Manschetten ihrer neuen Bluse und ihre rote Krawatte, die wie eine Drachenzunge auf ihrem Tisch lag. Sie wollte nicht weinen und biss sich auf die Lippe, bis sie blutete.
    Auf dem kalten Schulhof sah sie zu, wie die anderen Kinder Bälle kickten, seilsprangen oder sich mit ihren neuen Schuhen beim Gummitwist verhedderten, und fragte sich, ob sie wegen des Wortes nicht mitspielen durfte. Dabei fühlte sie sich gar nicht vornehm, fühlte sich gar nicht wie ihre neue Kleidung oder das große Haus, das ihre Mummy ihr auf einem Foto gezeigt hatte. Ihr war nur kalt.
    Es gab noch ein Mädchen, das am Rand des Schulhofs stand, ebenso einsam wie sie. Seine Krawatte sah nicht aus wie eine scharfe Zunge, sondern wie ein alter Lappen, die Bluse über den schmalen Schultern war zu weit, und der Stoff sah nicht weiß und neu aus, sondern wirkte gebraucht, ebenso wie seine anderen Sachen.
    Es war also ein armes Mädchen, doch es lächelte schief und unsicher zu ihr herüber. Alice nahm ihren Mut zusammen und lächelte zurück. Bist du meine Freundin?, wollte sie fragen, hier auf diesem lauten Schulhof, wo die anderen herumbrüllten, jeder die gleichen Farben trug, wo zwar überall Kinder waren, von denen aber nicht eins wie sie war und niemand sie mochte. Bist du meine Freundin?
    Das Mädchen lächelte noch immer. Dann geschah ein Wunder, denn mit einem Mal standen sie zusammen, und ihre Schultern berührten sich. Sie schauten den anderen Kindern zu.
    »Ich heiße Alice«, flüsterte sie, voller Scheu angesichts ihrer Gabe.
    Das andere Mädchen hustete in seine dünne Hand. Dann drehte es sich zu Alice um. »Ich heiße Lee.«
    Damit hatte Alice eine Freundin, jemanden, mit dem sie ein Lächeln wechseln konnte. Miss Giddyhoo, ihre Lehrerin, war eine liebe ältere Dame. Sie unterrichtete ihre letzte Klasse, danach würde sie in den Ruhestand gehen. Sie erklärte, Ruhestand bedeute, dass sie nicht mehr arbeiten müsse, sondern mehr Zeit für ihren Garten habe. Als sei der Garten etwas Trauriges, betupfte sie dabei ihre Augen mit einem rosa Taschentuch. Sie wusste, dass Alice in Lee eine Freundin gefunden hatte und der Junge hinter ihr nicht nett war, deshalb trug sie dem Jungen auf, seinen Platz mit Lee zu tauschen. Wenig später pikte Alice kein Bleistift mehr in den Rücken, dafür stupste Lee sie mit dem Fuß an. Sie hatte ihren Schuh abgestreift und flüsterte ihr heimlich ins Ohr. In den Pausen sprachen sie miteinander, und so vergingen die Tage und Wochen bis zum Beginn von Miss Giddyhoos Gartenarbeit.
    Nach der Schule durfte Lee mit zu Alice kommen, ihre neue Mutter sah das gern. »Mir ist es lieber, wenn ich dich im Auge habe«, sagte sie zu Alice. »Außerdem kann Lees Mutter in der Zeit mal verschnaufen.« Lee hatte drei Brüder, von denen zwei noch Babys waren.
    »Zwillinge«, sagte das Mädchen und schnitt eine Grimasse. »Einer so schrecklich wie der andere.«
    Darüber mussten sie beide lachen. Alice wünschte, ihre Freundin könnte für immer bei ihnen wohnen oder dass sie selbst einen Bruder oder eine Schwester hätte und nie mehr allein sein müsste. Den Wunsch nach Geschwistern vertraute sie ihrer neuen Mutter an, die sich bekümmert über den flachen Bauch rieb und sagte: »Ich fürchte, das wird mir nicht gelingen.« Gleich darauf machte sie sich daran, die Küche zu putzen.
    »Können wir mal was anderes spielen?«, fragte Lee eines Tages und schob die Unterlippe vor.
    »Nein. Wir spielen mein Spiel.«
    »Das ist langweilig.«
    Lee sah zwar aus, als wollte sie weinen, aber sie blieb da, statt nach Hause zu gehen. Sie wusste, was sie bei diesem Spiel machen musste, denn sie hatten es schon viele Male gespielt. Daher legte sie sich aufs Bett.
    »Nicht aufs Bett, auf den Fußboden«, flüsterte Alice, denn unten im Haus war ihre neue Mutter. Sie durfte nicht hochkommen, um nachzusehen, was sie taten.
    Seufzend ließ Lee sich auf den Fußboden fallen und machte sich steif. »Mir ist kalt«, beschwerte sie sich, doch schon lag Alice an ihrer Seite und schmiegte ihre Wange

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