Stirb mit mir: Roman (German Edition)
Woche wiederzukommen. Deshalb habe ich mit meinen Eltern gesprochen. Ich wollte nicht, dass sie die Geschichte von jemand anderem erfahren.«
»Haben Sie ihnen die Wahrheit gesagt?«
»Die Wahrheit«, erwidere ich nachdenklich. »Die Wahrheit ist immer eine Frage der Interpretation.«
Wie ich schon sagte, ich wollte nicht, dass meine Eltern aus der Zeitung von Smiths Tod erfuhren oder es ihnen von anderen zugetragen wurde, schließlich war es nur eine Frage der Zeit, ehe die Sache publik wurde. Insbesondere in Suffolk, wo nie viel passierte, würde Smiths Tod Aufsehen erregen. Ich machte mir Sorgen um meine Eltern und wollte sie nicht verletzen. Nicht, dass ich mich geschämt hätte, aber mir war klar, dass sie es von sich aus nicht begreifen würden. Wie auch? Ihr Leben ist dermaßen normal.
In der Regel besuche ich meine Eltern einmal in der Woche abends für eine Stunde. Dad sitzt für gewöhnlich im Wohnzimmer, sieht fern oder liest Zeitung. Meine Mutter ist währenddessen entweder in der Küche, wo sie makellose Flächen blank scheuert, oder im Esszimmer und poliert den kleinen Teakholztisch. Wenn ich ankomme, gehen wir nach oben in mein altes Zimmer, wo sie sich ans Fenster setzt, um zu rauchen. Mein Vater ist gegen das Rauchen, deshalb beugt sie sich wie ein heimlich paffender Teenager weit aus dem Fenster. Wenn sie es vergisst und Rauchschwaden durch den Raum ziehen, wedelt sie den Qualm hektisch fort und nebelt alles mit einem blumigen Duft aus der Sprühdose ein, die sie unter meinem Bett stehen hat. Das Bett ist schmaler als ein Einzelbett. Mein Vater hat es gezimmert und darunter Regalfächer eingebaut. Da er Fachlehrer für Schreinerkurse ist, fallen ihm solche Dinge leicht. Er kann mit Holz besser umgehen als mit Menschen. Als ich noch in der Schule war und gesehen habe, wie die Jugendlichen mit ihm umgesprungen sind, habe ich mich für ihn geschämt. Er hätte Tischler werden und allein in einer Werkstatt arbeiten sollen, doch dazu fehlte ihm der Schwung. Die sichere Pension war ihm lieber.
Im Haus meiner Eltern bleibt jeder in seinem Zimmer. Das war schon früher so, als ich noch bei ihnen wohnte. Der Esszimmertisch wird zwar täglich poliert, doch benutzt wird er nur an Weihnachten. Sogar die Mahlzeiten, einschließlich des Frühstücks, verteilte meine Mutter auf Tabletts. Zuerst war mein Vater an der Reihe, dann kam sie hoch in mein Zimmer. Sie selbst aß nie viel und wenn, dann meistens im Stehen an die Fensterbank gelehnt. Mitunter plauderte sie dabei mit mir. Ich glaube, in solchen Momenten war sie am glücklichsten. Mein Auszug muss für sie sehr hart gewesen sein, denn danach hatte sie keinen mehr zum Reden. Was blieb ihr denn da anderes, als zu putzen und wischen? Mein Vater arbeitete schließlich den ganzen Tag. Nach und nach begann sie, auch bei anderen Leuten zu putzen, und machte ihre Arbeit natürlich tadellos.
Als ich sie an dem Tag nach Smiths Tod besuchte und noch den Gestank der Polizeiwache an mir roch, bestand meine Mutter darauf, mir ein Tablett zurechtzumachen – mit Kartoffelpüree, einem vegetarischen Kotelett und einer Schale Eiscreme. Damit setzten wir uns in mein Zimmer. Meine Hände waren nicht mehr blutbespritzt, aber die Erinnerung daran haftete noch in mir. Ich konnte nichts essen, sondern sah zu, wie meine Mutter rauchte, und dachte zum x-ten Mal, dass sie zu dünn war und ich sie darauf ansprechen sollte. Ich hätte von der Polizeiwache auf direktem Weg nach Hause gehen sollen. Smith war erst seit neun Stunden tot, und die meiste Zeit hatte ich seither in einer Zelle verbracht. Ich wollte dringend nach Hause fahren und duschen, doch der Gedanke an die leeren Räume war mir unerträglich, ich brauchte noch Zeit.
»Warum ziehst du nicht für ein paar Tage wieder hier ein?«
Man sah den Rauch in meinem Zimmer, trotzdem griff meine Mutter nicht nach der Sprühdose unter meinem Bett. Da wusste ich, dass sie schon von Smiths Tod gehört hatte.
»Mir geht es gut, Mum.«
»Vielleicht solltest du jetzt besser nicht allein sein.«
»Ich bin gern allein. Außerdem habe ich noch einiges zu tun. Der Fall muss immerhin aufgeklärt werden.«
»Aufgeklärt?«, fragte meine Mutter hoffnungsvoll. »War das mit der Polizei ein Irrtum?«
Später erfuhr ich, dass über Smiths Tod in den Abendnachrichten berichtet worden war. Dabei wurde ich als seine Freundin erwähnt, die der Polizei bei ihren Nachforschungen half.
»Sicher, ein großer Irrtum.«
Mehr konnte ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher