Stirb mit mir: Roman (German Edition)
nicht fassen, wie sehr ich dich liebe.«
Solche Worte habe ich in meinem Leben selten gehört. Sie sind ein Schatz, den ich hüten werde.
Obwohl ich Lee seit Ewigkeiten kenne, kann sie mich immer noch überraschen. Es ist wie bei dem Kinderspiel, bei dem man um etwas würfelt, das in etliche Schichten Papier eingeschlagen ist. Bei jeder Schicht, die ich abschäle, glaube ich, auf das begehrte Objekt zu stoßen, nur um festzustellen, dass eine weitere auf mich wartet. Mit Lees Reaktion, ihrer Nachsicht, habe ich nicht gerechnet, nicht mit einer Liebe, die so wenig verlangt. Die so bedingungslos scheint, denn irgendwo gibt es immer Bedingungen, und ich wäre dumm, wenn ich dächte, ihre Liebe könnte mein Geständnis überdauern. Liebe ist grundsätzlich nicht von Dauer. Deshalb muss man sie auch im Moment ihrer höchsten Reinheit festhalten, denn nur dann bleibt sie unbefleckt. Lee liebt mich, aber darauf, dass sie es für alle Zeit tut, kann ich mich nicht verlassen. Ich liebe sie auch, wenn auch nicht in ausreichendem Maß, nicht wie ich Smith geliebt habe. Meine Liebe für Lee zeitigt keine Poesie.
Die mitternächtliche Stille bildet eine raue Landschaft. In dieser Zeit schwindet unser Selbstvertrauen, wird das, was wir vortäuschen, zunichte gemacht, bis nur noch unsere tiefsten Selbstzweifel übrig sind. Ich sehe Lees Kopf auf meinem Kopfkissen, ihre halb geöffneten Hände auf dem sauberen Laken und ahne, was es heißt, eine normale Beziehung zu haben. Ein Teil von mir sehnt sich danach, nach geteilten Rechnungen, gemeinsamen Ferien, vielleicht auch nach Kindern. Es ist wie ein Trugbild und zeigt mir, wie mein Leben sein könnte. Als Lee mich anschaut und unsere Körper sich vereinen, glaube ich sogar, dass es Wirklichkeit ist.
Die Nacht ist für mich gefährlich, denn sie zerstört die Vergangenheit und Smiths heiligen Plan. Stattdessen zeigt sie mir eine allzu bequeme Illusion der Liebe.
Zumindest das kann Lee mir geben.
Siebenundzwanzig
1981 Alice hatte eine neue Mutter, eine ältere, die nicht so viel weinte, aber auch weniger lachte. Sie suchte für das Mädchen neue Kleidung aus. Die schöne fliederfarbene Jacke war verschwunden, und die neue Mutter half ihr nicht beim Suchen. Sie kaufte ihr ungewohnte Sachen, Kleider mit Spitze und Schleifen auf dem Rücken. Alice durfte nicht mehr auf Bäume klettern und keine fremden Hunde streicheln. Für ihr neues Leben gab es neue Regeln.
Die neue Mutter versuchte, ihr zu erklären, warum sie jetzt eine andere Mummy habe. Alice lernte biblische Geschichten kennen, die ihre neue Mutter ihr jeden Abend vorlas. Die von Aschenputtel und Rotkäppchen hörte sie dagegen nicht mehr.
»Es ist wie bei Jesus«, erklärte ihre neue Mutter. »Er hatte zwei Daddys. Gott, seinen richtigen Vater, und Josef, der ihn wie seinen eigenen Sohn aufzog und jeden Tag für ihn da war.«
»Bin ich wie Jesus?«, fragte Alice und dachte an jene Stellen der biblischen Geschichten, die sie nicht mochte – an die Soldaten, die Babys getötet hatten, nachdem die Heiligen Drei Könige Herodes geweissagt hatten.
»Ja … nein, eigentlich nicht, dafür hast du zwei Mummys. Eine, die dich in ihrem Bauch hatte und jetzt im Himmel ist, und mich. Aber ich habe dich so lieb, als wärst du aus meinem Bauch gekommen.«
Da konnte Alice ihr nicht mehr folgen, doch ihre neue Mutter sah aus, als würde sie gleich weinen, deshalb versuchte sie, das Gehörte zu verstehen. »Ist meine richtige Mummy wie Gott?«
Ihre neue Mutter begann, das Puppengeschirr aufzustellen. »Jetzt gibt es Tee und Kuchen. Welches Püppchen möchtest du dazu einladen?«
Alice reihte ihre Teddybären und Barbie auf und dachte an ihre richtige Mummy, die wie Gott war. Sie konnte sie zwar nicht sehen, aber sie spürte, dass sie da war und immer über sie wachte. Erst recht, wenn sie betete.
Mit fünf Jahren kam Alice in die Schule.
In ihrer steifen Bluse stand sie auf dem Schulhof und zählte die Sekunden, bis sie wieder in das Klassenzimmer gehen konnte. Obwohl es dort schmutzig war und sie schauderte, wenn die Kreide auf der Tafel quietschte. Zudem hatte ihr Stuhl eine Öffnung in der Rückenlehne, durch das der Junge hinter ihr sie mit einem Bleistift pikte und dabei auf ihrer neuen weißen Bluse graue Punkte hinterließ. Immer wieder raunte er ihr »vornehme Ziege« ins Ohr, was Alice nicht verstand. Sie wusste nur, dass ihre neue Mutter andere Leute »vornehm« nannte und ihre richtige Mummy hübsche Orte so
Weitere Kostenlose Bücher