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Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Stirb mit mir: Roman (German Edition)

Titel: Stirb mit mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Dugdall
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Stattdessen beschloss sie, auf den Tag zu warten, an dem sie ihrem Zuhause entkommen konnte. Keats zeigte ihr den Weg.
    Alice saß im Wartezimmer des Arztes. Ihre Mutter hatte sie gebeten mitzukommen und war ins Sprechzimmer gerufen worden. Im Wartezimmer war es voll. Zwei Kinder zankten sich um das schmutzige Puppenhaus in der Ecke. Alice nahm an, ihre Mutter habe sie zu ihrer seelischen Unterstützung mitgenommen. Am Morgen hatte sie weinerlich gewirkt und den Küchenfußboden vor ihrem Aufbruch zweimal geschrubbt. Vielleicht brauchte sie etwas gegen Depressionen. Sie gähnte und wartete.
    Als ihre Mutter zurückkehrte, wirkte sie um Jahre gealtert, mit müdem Blick und sorgenvoll gerunzelter Stirn. Andererseits war sie ja auch schon älter, ein Umstand, den Alice mitunter vergaß.
    Mit dünnem Lächeln und ineinander gekrallten Händen flüsterte sie: »Komm mit. Der Arzt möchte mit uns beiden sprechen.«
    Alices Herz fing an, heftiger zu klopfen. Sie war ein Teenager mit einstudierter Gleichgültigkeit, kreideweiß geschminktem Gesicht, rotem Lippenstift und Doc Martens, doch ihr Herz konnte sie nicht verkleiden. Es schmerzte bei dem Gedanken, ihrer Mutter könne etwas fehlen.
    Die Tür zum Sprechzimmer stand offen. Darüber hing ein großes Schild mit der Aufschrift ›Zimmer K‹. In der Praxis gab es elf Sprechzimmer und demzufolge jede Menge kranker Leute. Ihre Mutter trat zur Seite, und Alice setzte sich auf den Stuhl, auf den der Arzt hinter dem Schreibtisch deutete.
    Es war nicht der Arzt, zu dem sie sonst immer gingen. Dieser Mann war älter, hatte einen struppigen Bart und kleine, dunkle Augen. Er trug ein braunes Jackett aus Cordsamt, mit Lederflicken an den Ellbogen. Die anderen Ärzte, die sie kannte, hatten feine Hemden mit Krawatte oder Fliege an. Mit ihnen hatte dieser Mann nichts gemein. Er ähnelte eher einem Hippie.
    »Also dann, Miss Dunn. Oder darf ich Sie Alice nennen?«
    Alice murmelte »Ja« und wunderte sich. Die Frage hatte ihr bisher noch kein Arzt gestellt.
    Sie schaute ihre Mutter an, die auf dem Stuhl an ihrer Seite saß und den Fußboden anstarrte, als könne sie nicht fassen, wie schmutzig er war. Blass sah sie aus und abgekämpft. Sie muss tödlich krank sein, dachte Alice und spürte, wie es ihr die Brust abschnürte. Sie wappnete sich.
    »Allerdings müssen Sie mich mit Doktor Murray anreden.« Der Arzt lächelte, wie wenn ihm ein Witz gelungen wäre. Dann legte er die Hände flach auf den Schreibtisch – ein Zauberer, der zeigte, dass er nichts im Ärmel hatte. »Ich bin kein normaler Arzt, sondern ein Psychiater. Ihre Mutter hat Sie zu mir überweisen lassen. Sie macht sich Sorgen.«
    Ihre Mutter schaute noch immer zu Boden. Dr.   Murray lächelte Alice an, als seien diese Sorgen etwas Gutes. Sie verzog das weiß geschminkte Gesicht. Also waren sie ihretwegen gekommen. Ihre Mutter hatte sie überweisen lassen! Ihrer Mutter fehlte nicht das Geringste.
    »Ich habe Ihrer Mutter bereits erklärt, dass Sie mit sechzehn kein Kind mehr sind und ich Ihr Einverständnis brauche, ehe ich Sie beraten kann.« Der Arzt machte eine Pause und lächelte einnehmend. »Ihre Mutter wird uns für eine Weile allein lassen. In der Zeit werden wir beide uns unterhalten. Doch zuerst soll sie Ihnen sagen, worüber sie sich Sorgen macht. Bitte, Misses Dunn.«
    Alice sah, wie ihre Mutter nach Worten suchte, die schließlich vorwurfsvoll und von Schniefen durchsetzt hervorkamen.
    »Du ziehst dich immer so zurück. Nie hast du richtige Freundinnen gehabt. Mit Ausnahme von Lee selbstverständlich. Ich dachte immer, du seist schüchtern, aber dann, als ich euch beide entdeckt habe …«
    »Hast du es ihm etwa erzählt?« Heißer Zorn erfüllte ihre Brust.
    »Was hätte ich denn sonst tun sollen, mein Kind? So etwas ist doch nicht normal.« Ihre Mutter brach in Tränen aus.
    Dr.   Murray schob ihr eine Schachtel Papiertaschentücher hin und sagte freundlich, aber bestimmt: »Misses Dunn, ich habe Ihnen bereits erklärt, dass Homosexualität kein Hinweis auf eine psychische Störung ist. Alle Sechzehnjährigen haben im Hinblick auf ihre Sexualität Probleme.«
    Ab da wusste Alice, worum es bei diesem Besuch ging. Sie zwang sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich bin nicht homosexuell. Hat sie das etwa behauptet?«
    »In dieser Hinsicht ist es ganz normal, dass Sie Ambivalenz verspüren, allein deshalb, weil Ihre Mutter damit Probleme hat.«
    »Nein, Doktor Murray. Mit meiner Mutter hat das nichts zu

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