Stirb mit mir: Roman (German Edition)
und distanziert. Wie sollte sie da jemals etwas erfahren? Jedes Mal wenn Lee da gewesen war, roch es in Alices Zimmer nach Nagellack. Als würden die beiden schnüffeln.
Mit Alice konnte sie nicht darüber sprechen. Dazu fehlten ihr die richtigen Worte. Aber sie konnte das Zimmer betreten, denn dazu brauchte sie lediglich einen Vorwand. Dann konnte sie nachsehen, ob die beiden Nagellack inhalierten.
Mrs Dunn sagte sich, dass jede gute Mutter auf die Weise vorging, stieg die Stufen weiter hoch und wich den Stellen aus, die unter ihrem Schritt knarrten. Vor der Tür des Mädchenzimmers blieb sie stehen und griff nach der Klinke. Für einen Moment horchte sie, die Hand um das Metall geschlossen. Dann gab sie sich einen Ruck und drückte die Tür auf.
Es war anders als erwartet. Die Mädchen beugten sich nicht über ein Fläschchen Nagellack, inhalierten keine Dämpfe. Stattdessen lagen sie auf dem Fußboden. Lee auf dem Rücken, nackt, neben ihr Alice, den Arm um Lees Taille geschlungen, während sie an der Brust ihrer Freundin nuckelte.
Alice war eine hervorragende Schülerin. Fakten und Ideen saugte sie im Nu auf. Sie dürstete nach Wissen und Erkenntnissen und würde es zweifellos einmal weit bringen. Ihre Entscheidung, Abitur zu machen, hatten sämtliche Lehrer begrüßt. »Für ihre weitere Ausbildung wünschen wir ihr alles Gute«, hatte der Klassenlehrer in das letzte Zeugnis geschrieben. Nur war sie nicht in allem gut: In den Pausen oder beim Mittagessen in der Schulkantine versagte sie kläglich, wie überhaupt im Umgang mit den anderen Mädchen. Ihre Mitschülerinnen in der Oberstufe mieden sie. Lee war nicht mehr an der Schule, daher blieb Alice in den Freistunden allein. Häufig setzte sie sich dann in die Bibliothek und umgab sich mit einer Barrikade aus Büchern.
Keine Freundinnen zu haben, machte Alice nichts aus. Es war deren Verlust, deren Problem, wenn sie nicht erkannten, welch gute Freundin sie gewesen wäre. Sie trug die Nase hoch und schaute auf die anderen herab. Dafür hassten die Mädchen sie, doch sie brachte sich bei, über derart kleinlichem Gehabe zu stehen, und beschloss, dass sie keine Freundschaften wünschte. Im Übrigen hatte sie Lee, und wer brauchte schon mehr als eine einzige Freundin?
Lee war Bademeisterin im örtlichen Schwimmbad und hatte vor, in die Armee einzutreten. Sie trainierte eifrig, um in Form zu kommen, legte Wert auf Fitness und Kraft. Anders als Alice interessierte Lee sich nicht für Bücher, sondern zog praktische Tätigkeiten vor, die man mit den Händen machen konnte.
Alice benutzte ihr Gehirn, ihren Geist. Von den drei Hauptfächern, die sie für ihr Abitur gewählt hatte, war sie in Englisch am besten. Ihr Englischlehrer riet ihr, über ein Studium nachzudenken, und erklärte, sie habe die Fähigkeit zur Textinterpretation, ein Auge für Details und besitze literarischen Geschmack. Als sie die Ode an eine griechische Urne durchnahmen, entdeckte Alice Keats.
Und Liebe, seliger als alles, Liebe!
Stets warm und voll Erwartung süßer Schauer,
Du ewig dürstende und ewig junge,
Hoch über der Befriedigung der Triebe …
Alice begriff sofort, dass die Figuren auf der Urne unsterblich waren, erfasste umgehend, dass dieses Bild die niedrigen, allzu menschlichen Leidenschaften überstieg. Sie dachte an ihre Mutter, an das Bild, das sie seit Jahren verfolgte: ihre unsterbliche Mummy, die jenseits aller Zeit auf dem Fußboden lag, für immer schön und für immer geliebt.
Auf einmal fühlte sie sich verstanden. Die Romantiker schenkten ihr eine Welt, in der ihre Gefühle Sinn ergaben. Ihre Erleichterung war grenzenlos.
Die Wahl zwischen Dichtung und Lee fiel ihr leicht. Das Ätherische triumphierte über das Körperliche.
Lee war mittlerweile kräftiger geworden, hatte die breiten Schultern einer Schwimmerin, muskulöse Schenkel und roch ständig nach Chlor. Alice bat sie nicht mehr, sich auszuziehen. Nachdem ihre Mutter die beiden erwischt hatte, fühlte sie sich ohnehin nicht mehr sicher. Zwar hatte sie nichts gesagt, aber sie kam auch nicht mehr ins Zimmer. Ihrem Vater hatte sie nichts verraten, davon war Alice fest überzeugt.
Es stand außer Frage, dass sie lesbisch war. Ihr Verlangen hatte mit Sexualität nichts zu tun, sondern spielte sich auf einer höheren Ebene ab. Ihr Bedürfnis nach Lees Körper, nach der Reglosigkeit ihres Fleisches war geistiger Natur. Doch wie sollte sie das ihrer Mutter erklären? Sie würde es ohnehin nie verstehen.
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