Stirb mit mir: Roman (German Edition)
vom Kaffeeautomat zurück. Du hattest mir einen Becher mitgebracht und vor mich hingestellt. Da wurden mir der Schreibblock und der Stift in meiner Hand bewusst. Wahrscheinlich ist es dir gar nicht aufgefallen, aber ich habe den Brief sofort in meine Schreibtischschublade geschoben. Zu meiner Überraschung hast du mir eine Hand auf die Schulter gelegt und gefragt, ob alles in Ordnung sei.
Es war das erste Mal, dass du mich berührt hast. Deine Hand war warm. Du hast sie zurückgezogen, mich aber weiterhin angeschaut, und ich erkannte, dass deine Sorge um mich aufrichtig war. Ich wurde verlegen und erklärte, alles sei bestens, doch das hast du mir nicht abgenommen, oder?
Du wolltest mir etwas Gutes tun und hast mir die Telefonnummer deines Dealers gegeben. Das war gut für mich. Ich brauche ein paar Joints, um mich zu stärken. Ich weiß, dass du mir die Nummer nicht gern gegeben hast. Du hattest erst Bedenken, dann hast du dich überwunden. Dafür danke ich dir.
Cate schaute hoch und rieb sich die Augen. Demnach hatte David den Abschiedsbrief sechs Wochen vor seinem Tod geschrieben. Er war tatsächlich ein Mensch gewesen, der Dinge sorgfältig plante. Ihr Kopf schmerzte, und sie sah Schlieren durch ihr Blickfeld schwimmen.
Das Tagebuch bewies Davids Abartigkeit. Alice war sein Opfer gewesen. Möglicherweise hatte die Krankheit sie bereits befallen, breitete sich in ihr aus. Sie hatte das Recht zu erfahren, was sie mit dem Verzehr von Davids Fleisch riskiert, welcher Gefahr er sie ausgesetzt hatte. Warum er sie gebeten hatte, von ihm zu essen. Vorher jedoch wollte Cate mit jemandem sprechen, der in der Lage war, ihr weiterzuhelfen.
Dreißig
1993 Nackt und reglos lag Lee auf dem Fußboden. Genau so, wie es sein sollte. Wenn Alice ihre Freundin anschaute, dachte sie, dass es trotzdem nie ganz richtig war. Lee zappelte zu sehr herum und klagte ständig, ihr sei kalt. Es funktionierte einfach nicht, weder für sie noch für Lee. Alice jagte einem Gefühl nach, einer schemenhaften Erinnerung, einem Moment der Süße, der aber sofort wieder verging. Sie wünschte sich nichts weiter, als es noch einmal zu erleben, jenes Gefühl der Liebe, das bei jedem neuen Versuch weiter in die Ferne rückte. Hatte sie es vergessen? Vor zwölf Jahren hatte sie es zum letzten Mal erlebt, und da war sie erst vier Jahre alt gewesen. Um es zurückzuholen, legte sie die Stirn in Falten und musste sich mit aller Gewalt konzentrieren, denn wenn sie erst vergaß, wie ihre richtige Mutter aussah, wie das Zimmer gerochen und das Sandwich geschmeckt hatte, wäre sie verloren. Das wusste sie.
Lee tat ihr Bestes, aber sie begriff es einfach nicht. Abgesehen davon war sie körperlich scheu geworden, denn mit sechzehn hatte sie zugenommen und Brüste bekommen. Man musste ihr gut zureden und sie streicheln, dabei wäre es richtiger gewesen, zu schweigen. Alice seufzte. Dann musste es eben so gehen. Sie legte sich zu ihrer Freundin und schlang einen Arm um Lees Taille. Auch die Taille war jetzt dicker, die Haut nicht mehr rein, sondern pickelig geworden. Arme Lee. Kein Wunder, dass die anderen Mädchen in der Schule sie ignorierten. Mit einem Mal verspürte Alice das Bedürfnis, ihre Freundin zu beschützen, denn sie schien nicht einmal zu erfassen, was die anderen über sie sagten. Nichtsdestotrotz hatte sie sich ihr zuliebe nackt auf den Fußboden gelegt und trug nur noch den Nagellack, mit dem Alice ihr sorgfältig die Zehennägel lackiert hatte.
Alice legte den Kopf auf die weiche Brust ihrer Freundin und lauschte den Schlägen ihres Herzens, das sich beschleunigte, als sie den Arm noch fester um sie schlang. Lee drehte das Gesicht zu ihr um und wollte geküsst werden. Alice spürte den warmen Mund auf ihrem Haar und flüsterte: »Lieg still!« Durch ihr Gezappel machte Lee immer alles kaputt.
Sie lagen in Alices Zimmer und dachten nur an die Liebe. Die leisen Schritte ihrer Mutter, die mit einem Korb voller Wäsche die Treppe hochkam, hörten sie nicht.
Mrs Dunn hielt inne und fragte sich zum hundertsten Mal, was die beiden wohl so still im Zimmer ihrer Tochter taten. Besorgt dachte sie an Dinge, die im Fernsehen erwähnt worden waren, Drogen beispielsweise, der Missbrauch bestimmter Tinkturen. Angeblich konnte man schon nach einmaligem Schnüffeln an einem Fläschchen Nagellack sterben. Wissen Sie, was Ihr Kind treibt? Das war am Morgen Thema einer Fernsehsendung gewesen, und sie war nervös geworden. Doch ihre Tochter war so kalt
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