Stirb schön
hielt einen braunen Umschlag auf dem Schoß und darauf eine Wegbeschreibung, die sie aus dem Internet ausgedruckt hatte.
Normalerweise hätte Roy Grace die einstündige Fahrt genutzt, um sein junges Teammitglied besser kennen zu lernen, doch an diesem Morgen war er mit den Gedanken ganz woanders und sprach nur wenig. E-J erzählte ein wenig von sich selbst, dass ihr Vater eine Werbeagentur in Eastbourne besaß und ihr jüngerer Bruder vor einigen Jahren einen Hirntumor überstanden hatte. Es reichte ihm, um den Menschen hinter der ehrgeizigen Nachwuchspolizistin zu erkennen, der er täglich im Büro begegnete. Er gab jedoch wenig von sich preis, worauf sie ebenfalls in Schweigen verfiel.
Sie fuhren auf der M25, die den Großraum London ringförmig umgab, konstant 120. Grace schätzte diese Autobahn nicht sonderlich, weil sie regelmäßig so verstopft war, dass manche sie als den größten Parkplatz der Welt bezeichneten, doch an diesem Samstagmorgen konnte der Verkehr ungehindert fließen. Das Wetter wurde schlechter, der Himmel färbte sich bedrohlich schwarz. Einzelne Regentropfen spritzten auf die Scheibe, doch es lohnte sich noch nicht, die Wischer einzuschalten. Zudem bemerkte Grace sie kaum, weil er in Gedanken ganz und gar auf den Fall konzentriert war.
Janie Stretton war irgendwann am Dienstagabend ermordet worden, und heute war schon Samstag. Sie hatten bisher weder den Kopf gefunden noch ein Motiv oder einen Verdächtigen ermittelt.
Es gab nicht einen einzigen verdammten Hinweis.
Und am Montag würde der unerträglich arrogante Cassian Pewe von der Met zu ihnen stoßen und den gleichen Rang bekleiden wie er selbst. Zweifellos wartete Alison Vosper nur auf seinen nächsten Fehler, damit sie ihm den Fall entziehen und ihn durch Pewe mit seinem goldblonden Haar, den blauen Engelsaugen und der Stimme, die wie ein Zahnarztbohrer klang, ersetzen konnte.
Alison Vosper würde darauf drängen, dass ihr Protegé – denn als das betrachtete ihn Grace – sich schnell bewährte. Und was konnte es dafür Besseres geben als einen Fall wie diesen, der viel Aufmerksamkeit erregte und bei dem die Ermittlungen bislang ins Leere gelaufen waren?
Was ihn an dem Mord am meisten beunruhigte, war die äußerste Brutalität, mit der der Täter vorgegangen sein musste. Er hatte wie im Wahn gehandelt, und doch gab es keinerlei Anzeichen für einen sexuellen Übergriff. Hatten sie es mit einem völlig Irren wie Peter Sutcliffe zu tun, dem so genannten Yorkshire Ripper? Einem Mann, dem göttliche Stimmen befohlen hatten, Prostituierte zu töten?
Oder hatte Janie Stretton sich Feinde gemacht?
Ihr letzter Freund Justin Remington war zwar potenziell verdächtig, doch nach dem zu urteilen, was Janies Vater gesagt hatte, schien die Idee weit hergeholt. Bella Moy besaß eine gute Menschenkenntnis, und Grace würde sich sicherer fühlen, wenn sie mit Remington gesprochen und sich eine Meinung gebildet hatte. Falls ihr etwas spanisch vorkam, würde er den Mann noch einmal persönlich befragen. Sollte aber Justin Remington, wie Grace insgeheim vermutete, nicht der Mörder gewesen sein, wer dann? Was war sein Motiv? Und würde er erneut zuschlagen?
Nach der Begegnung mit Brent Mackenzie gestern Abend hatte er noch Fish und Chips und eine eingelegte Zwiebel gekauft und war damit in die fast verlassene Soko-Zentrale gegangen. Er hatte das Essen mit einem bitteren Tee aus dem Automaten heruntergespült und war dabei noch einmal die Unterlagen des Falls durchgegangen, die Hannah Loxley, die Schreibkraft, für ihn zusammengestellt hatte.
Er hatte lange dort gesessen, das Foto von Janie Stretton betrachtet und dann die beiden großen Tafeln. An einer hing eine Vermessungskarte von Peacehaven, auf der die beiden Orte, an denen man die Hand und die übrigen Körperteile gefunden hatte, rot eingekreist waren. Auch gab es Fotos von der Leiche am Fundort und bei der Autopsie, auf denen auch der Käfer im Rektum zu sehen war. Die Bilder zogen vor seinem inneren Auge vorbei, und plötzlich wurde er von Ekel geschüttelt.
Janie, was ist am Dienstagabend nur mit dir passiert? Und wer war Anton? Hat Anton dir das angetan?
Seine Gedanken kehrten zu Derek Stretton zurück. Mehr als 95 Prozent aller Mordopfer in Großbritannien wurden von Angehörigen oder Bekannten getötet. Hatten er und Glenn Branson gestern etwas übersehen, als sie Janies Vater aufsuchten? Hatte er etwas gesagt, das den Schluss zuließ, er habe seine eigene Tochter
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