Stoerfall in Reaktor 1
hält. Auf einem Bild ist ein Krankenwagen, der über eine Wiese fährt, mit einem blauen Himmel darüber und einer knallgelben Sonne. Erst als Lukas genau hinsieht, erkennt er die kleine Figur, die aus dem Krankenwagen genau in den Himmel zu schweben scheint, es sind nur ein paar Striche und die Figur ist gespensterhaft verwischt, aber gerade das reicht, um ihm wieder mal die Tränen in die Augen zu treiben.
Dann muss Karlotta noch mal zur Toilette, und als Lukas’ Mutter mit ihr verschwunden ist, dreht er sich zu der Ärztin.
»Nett, dass Sie extra hergekommen sind«, sagt er.
»Das ist das wenigste, was ich tun kann. Aber deine kleine Schwester wird das schaffen, sie ist stark.«
»Leonie hat es nicht geschafft«, sagt Lukas, eigentlich ohne es zu wollen, es ist ihm einfach so rausgerutscht.
Die Ärztin zögert einen Moment, bevor sie antwortet. »Das Krankheitsbild bei Karlotta war zu Beginn der Behandlung zum Glück noch nicht sehr ausgeprägt, das heißt außerhalb des Knochenmarks waren noch keine weiteren Organe von Leukämiezellen befallen. Damit standen die Chancen gut, dass wir mit einer Behandlung mit Zytostatika, also Zellwachstum hemmenden Medikamenten, Erfolg haben und innerhalb von fünf bis acht Wochen eine Remission der meisten Leukämiezellen herbeiführen könnten. Aber wir haben immer gesagt, dass das nur der erste Schritt ist und wir dann weitersehen müssen. Wir werden jetzt auf jeden Fall eine Intensivierungstherapie anschließen, zur präventiven Behandlung des Zentralnervensystems, eventuell auch mit einer Bestrahlung des Kopfes, um zu verhindern, das sich Leukämiezellen im Gehirn oder Rückenmark ansiedeln oder weiter ausbreiten.« Sie macht eine kurze Pause. »Karlotta ist in guten Händen hier, glaub mir«, fügt sie dann hinzu. »Und ich bin ständig in Verbindung mit den behandelnden Ärzten, sodass wir den weiteren Therapieplan gemeinsam entwickeln können. Und wenn ihr irgendwelche Fragen habt, könnt ihr mich jederzeit ansprechen, okay?«
»Sie waren gestern auf der Demo von meiner Mutter und den anderen Eltern, wegen Leonie«, erwidert Lukas unvermittelt. »Und Sie wollten noch irgendwas sagen, nachdem der Direktor vom AKW mit seiner Rede fertig war, aber …« Er blickt die Ärztin fragend an. Als sie abwehrend die Augenbrauen hochzieht, weiß er, dass sie jetzt auf der Hut ist. Aber er stellt seine Frage trotzdem: »Was? Was wollten Sie sagen? Es hatte irgendwas mit dem Satz zu tun, dass die Ursachen für die auffällige Häufung von Leukämie bei Kindern in Wendburg nicht auf das AKW zurückzuführen sind, richtig? Sie sind anderer Meinung?«
Die Ärztin holt tief Luft, als wollte sie Zeit schinden, um ihre Antwort genau abwägen zu können.
»Du bist Lukas, oder? Also, Lukas, es ist ein Fakt, dass im Umkreis von Atomkraftwerken eine signifikante Häufung von Leukämiefällen bei Kindern auftritt, ungefähr dreimal so hoch wie in der Durchschnittsstatistik. Aber tatsächlich wäre es wahrscheinlich zu kurz gedacht, daraus jetzt den Rückschluss zu ziehen …«
»Kommt das von Ihnen oder haben die Typen vom AKW Ihnen nahegelegt, dass Sie das sagen sollen?«, unterbricht Lukas sie. »Ich hab gesehen, wie Sie beiseite geführt wurden, bevor Sie weiterreden konnten, und wie die Sie dann zu Ihrem Auto gebracht haben. Womit haben die Ihnen gedroht, falls Sie nicht Ruhe geben sollten?«
Die Ärztin schüttelt den Kopf. »Ich bin Ärztin, Lukas, Wissenschaftlerin. Ich … brauche Fakten, ich kann nicht einfach irgendwas behaupten, was wissenschaftlich nicht belegbar ist. Oder jedenfalls …«
»Ja?«
»Nicht genügend belegbar, um als … Beweis gelten zu können. Es hat zig Untersuchungen gegeben, vor allem beim Kernkraftwerk Krümmel, aber es gibt auch genug Gegenargumente, die eben keine eindeutigen Rückschlüsse zulassen. Oder zumindest nicht einfach negiert werden können! Als Ärztin habe ich auch eine Verantwortung, nicht nur gegenüber meinen Patienten, sondern auch …«
»Jaja«, unterbricht Lukas sie. »Hören Sie auf, das brauche ich jetzt nicht.«
»Gut, Klartext! Wenn du mich persönlich fragst, dann … Wenn ich kleine Kinder hätte, würde ich ganz bestimmt nicht in die Nähe eines AKW s ziehen. Reicht dir das als Antwort?«
Hammer, denkt Lukas, das ist genau der Satz, auf den ich gewartet habe!
»Und das war es, was Sie gestern eigentlich sagen wollten?«
»So ungefähr, ja. Dass es Situationen gibt, in denen man sich nicht mehr dahinter verstecken
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