Stoerfall in Reaktor 1
kann, dass eine Ursachenklärung noch nicht zur Gänze abgeschlossen ist. Dass wir manchmal durchaus gut daran täten, uns ganz einfach auf unser Gefühl zu verlassen. Und hier ist es deutlich mehr als nur ein Gefühl oder ein Verdacht. Aber ein Verdacht reicht noch nicht. Das kann ich als Ärztin nicht vertreten.« Sie fährt sich mit der Hand übers Gesicht, als wäre sie am Ende ihrer Kräfte. »Doch, natürlich kann ich das«, setzt sie dann leise hinzu. »Aber zumindest in Wendburg oder auch hier in der ganzen Gegend stünde ich so ziemlich alleine da. Und vielleicht habe ich einfach Angst vor den Konsequenzen.«
»Aber was für Konsequenzen sollten das sein?«, hakt Lukas nach. »Es hat doch was damit zu tun, was die Ihnen gesagt haben, richtig? Was war das? Womit haben die Sie unter Druck gesetzt?«
»Das werde ich dir ganz bestimmt nicht erzählen«, kommt die prompte Antwort, als wäre der Ärztin plötzlich klar geworden, dass sie schon viel zu viel gesagt hat. »Das ist meine Sache, damit muss ich allein klarkommen und sonst niemand. Kümmern wir uns lieber um deine Schwester.«
Sie zeigt in die Richtung, aus der gerade Lukas’ Mutter und Karlotta von den Toiletten zurückkommen.
»Und wenn ich Ihnen ein paar Fakten liefere?«, sagt Lukas noch schnell. »Radioaktives Kühlwasser, das seit Jahren ohne Filter in den Fluss gepumpt wird. Eine Filteranlage für den Dampf aus dem Druckbehälter, die es zwar gibt, die aber nicht genutzt wird. Wären Sie dann bereit, einen Kommentar dazu abzugeben? Als Ärztin, meine ich? Wegen der Leukämiefälle hier?«
Die Ärztin sieht ihn an, als hätte ihr gerade jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Ja«, sagt sie dann nur knapp, bevor sie auf Karlotta zueilt und sich vor sie hockt, um ihr zu erklären, wie es jetzt weitergeht.
Lukas steht zwar daneben, hört aber dem Gespräch nicht zu. Er fühlt sich fast ein bisschen so, als hätte er gerade einen Sieg errungen. Sie haben die Ärztin auf ihrer Seite, wenn es nötig ist, da ist er sich sicher. Andererseits ist ihm bei dem Gespräch eben klar geworden, wie sehr alle davor zurückschrecken, eine klare Stellung zu beziehen. Jeder hat Angst, dass er dann alleine dasteht. Und wer weiß, womit Koschinski und Müller der Ärztin gedroht haben! Aber vielleicht haben sie noch nicht mal irgendetwas Konkretes gesagt, wahrscheinlich reicht schon so ein Satz wie: »Wollen wir uns nicht in aller Ruhe noch mal überlegen, ob wir uns das wirklich leisten können, hier mit irgendwelchen Anschuldigungen die Leute verrückt zu machen?« Oder etwas Ähnliches jedenfalls. Und wenn das nicht helfen sollte, kommt der nächste Schritt. Dann wird wirklich Druck gemacht.
Lukas hat gerade neulich erst eine Dokumentation im Fernsehen gesehen, bei der es um Preisabsprachen unter den Pharmakonzernen ging. Ein Polizist der Sonderkommission hat von einem Angestellten aus einer Arzneimittelfirma erzählt, der mit irgendwelchen Informationen an die Presse gegangen ist – und dann anonyme Telefonanrufe bekommen hat, bis hin zu Morddrohungen. Als sie ihm dann nachts sein Haus abgefackelt haben, hat er brav alle Anschuldigungen widerrufen. »Das sind Strukturen wie bei der Mafia«, hat der Polizist gesagt, dessen Gesicht durch ein grob verpixeltes Raster unkenntlich gemacht worden war, »die schrecken vor nichts zurück, um ihre Interessen zu sichern.« Lukas hat da noch gedacht, dass das bestimmt übertrieben war, aber inzwischen … Womit er wieder bei der Datei wäre, die Hannahs Vater angelegt hat. Und die sie jetzt an die Presse geben wollen. Sie können nur hoffen, dass Hannah wirklich so gut ist, wie sie behauptet, und niemand rauskriegt, wer sich da in das Computersystem des AKW s gehackt hat!
»He!«, seine Mutter tippt ihm auf die Schulter. »Komm, Lukas, das ist okay, wirklich. Mach dir keine Gedanken deshalb. Unternimm irgendwas in der Stadt, mach dir ein paar schöne Stunden. Hast du Geld? Sonst geb ich dir was …«
Lukas braucht einen Moment, bevor er kapiert, wovon sie spricht. Offensichtlich haben sie gerade verabredet, dass seine Mutter mit der Ärztin bei Karlotta bleibt, und er aber nicht auch noch dabei sein muss.
»Das ist wirklich nicht nötig, Lukas«, sagt jetzt auch die Ärztin. »Wir kommen gut alleine klar.«
Sie sieht ihn nicht an dabei, als hätte sie Angst, dass jeder Blickkontakt sie an ihr Thema von vorhin erinnert. Vielleicht will sie mich auch einfach loswerden, denkt Lukas. Aber als Karlotta ihn
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