Stolen Mortality
unsichtbaren Fesseln ertragen.
Sie standen inmitten einsamer Wiesen, lediglich ein paar Schafe grasten in Hörweite. Der herbe Geruch ihrer regenfeuchten, erst kürzlich geschorenen Leiber war überall. Er störte Laine nicht, so aufdringlich er auch war, denn sie verknüpfte Angenehmes damit. Vielleicht eine vergessene Erinnerung. Manchmal hatte sie einen ähnlichen Geruch nach dem Aufwachen in der Nase, doch sie bekam die Bilder in den Tiefen vieler angesammelter Gedanken nicht zu greifen. Es war auch nicht von Bedeutung.
Keine zehn Meter entfernt bot sich ein struppiges Gebüsch als vorläufiges Grab an. Gut, dann eben hier; der Kerl hatte das Meer als Grab ohnehin nicht verdient.
Der Mann umfasste ihre Hüften, zog sie an sich, sein Mund drückte sich auf ihren. Laine zuckte zurück, einen Moment war ihr flau. Sie fühlte sich abgestoßen von dem, den sie doch angelockt hatte. Dann griff sie an seinen Hinterkopf, zog ihn an den Haaren in den Nacken, und fand mit den Lippen seinen Hals. Seine Hände rutschen auf ihren Po und fassten hart zu. Sie ließ ihn gewähren, obgleich sich ihr Magen zusammenzog und alles in ihr zum Rückzug drängte. Stattdessen suchte sie mit der Zunge nach der richtigen Stelle an seinem Hals, an der das Blut in einem pulsierenden Strom dahinjagte.
Er war so angetrunken von der Begierde, dass es nicht nötig war, seine Sinne zu blenden. Unnötige Schmerzen sollten gewöhnliche Opfer nie leiden. Auch dieser Mann stöhnte nur, als sie zubiss; ein Laut, der aus Schmerz, Lust und Verwunderung zu gleichen Teilen zu bestehen schien. Solange er noch zu denken vermochte, würde er ihr Saugen an seinem Hals als Teil des Liebesspiels verstehen. So ein betrunkener, armer Teufel. Er rieb seinen Körper im Rhythmus ihrer Schlucke an ihrem. Seine Bewegungen wurden tranig, schwächer, und mit einem verwunderten Laut verlor er das Bewusstsein. Laine seufzte an seinem Hals erleichtert auf. Endlich musste sie diese Obszönität nicht mehr ertragen. Den Nächsten würde sie bewusstlos schlagen, bevor sie von ihm trank. Oder es gewaltsam tun und sich an der Gegenwehr erfreuen. Ja, danach stand ihr viel mehr der Sinn – warum nahm sie überhaupt noch Rücksicht auf irgendwen?
Der Fluss seines Blutes wurde langsamer. Es strömte nun nicht mehr dankbar in ihren Mund , sondern wollte kraftvoll herausgesaugt werden; ein Moment, den sie genoss. Ein Versprechen auf den nahenden Tod. Sein Herzschlag stockte, wurde flach und unstet. Sie konzentrierte sich, jetzt durfte sie keinen Zug zu viel machen, denn nach den übelsten Nebenwirkungen ihres liebsten Rauschmittels stand ihr nicht der Sinn. Aber sie wollte auch keinen Schluck zu wenig nehmen, denn es verlangte sie danach, den euphorischen Augenblick des Todes zu schmecken. Einen winzigen Schluck des sterbenden Blutes. Den Schluck, um den sich ihr Leben drehte.
Sein Herz verstummte. Laine saugte mit aller Kraft ein letztes Mal und riss sich dann von der geöffneten Arterie los. Mit einem unterdrückten Schluchzen ließ sie den kostbaren, letzten Schluck, der ihm das Leben genommen hatte, die Kehle hinabrinnen . Sie spürte, wie er in ihr glühte, sie fast verbrannte. Sein Leben schoss ihr mit seinem Blut durch jede Ader. Ihr Körper tauchte in ein Glück, das ihr jenseits dieses Augenblicks so unwirklich vorkam, dass sie immerzu dachte, es würde gar nicht existieren. Doch es war real – in diesem Moment, von dem sie wünschte, er würde ewig andauern.
Alles schien sie in diesem Moment zu sehen, alles zu hören und zu spüren, bis hin zu den Bewegungen des Erdmittelpunktes. Nichts davon störte ihre angespannten Sinne. Für den Moment gehörte das alles ihr.
Die Welt komponierte eine Symphonie aus Düften, Tönen, Bildern und Gefühlen, und spielte diese leidenschaftliche Rhapsodie für sie allein. Sie war glücklich. Jede Angst, jede Sorge und alle Leere verlor en sich im Tod des Opfers, als nähme er das alles mit ins Jenseits. Laine fühlte sich leicht und frei und unendlich zufrieden. Und endlich, endlich nach so vielen Tagen der Zerrissenheit wieder für einen kurzen Moment sicher.
„Ich fliege“, wisperte sie, und nahm nur am Rande ihres Bewusstseins wahr, dass sie zusammengekauert neben einer Leiche kniete und die Stirn ins Gras drückte, um nicht in die gebrochenen Augen sehen zu müssen.
Viel zu schnell fand sie sich in der Realität zurück. Es enttäuschte sie immer, wenn der Rausch vorbeizog und ihren Verstand vollkommen klar der Welt
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