Stollengefuester
nicht der Einzige, der beim ersten Frühstück in dieser Stadt die Sonnenbrille aufhat. Lass nur. Es ist bestimmt besser so.«
Nore Brand musterte den Commissaris von der Seite. Die Stupsnase mitten in seinem Gesicht würde jeden Anflug von Ernsthaftigkeit zunichte machen. Aber warum saß dieser holländische Kollege an ihrem Frühstückstisch?
Er fing ihren Blick auf. »Ich verteile Bußzettel an Bösewichte und, das wird euch beide interessieren, ich arbeite in meinem erweiterten Auftrag sozusagen als Freelancer auch mal für Interpol, Abteilung Kunst«, sagte er mit todernstem Gesicht, doch seine Äuglein funkelten hinter den dicken Gläsern. »Ihr habt euch am Mittwoch mit Interpol in Verbindung gesetzt. Ich vermute, ihr kennt diesen Mann«, sagte Couperus und legte ein Bild des Archäologen aus St. Petersburg auf den Tisch.
Nino schob die Sonnenbrille hoch und beugte sich über den Tisch. »Nie gesehen.«
»Du nicht, aber ich«, sagte Nore Brand. »Das ist Vladimir Plodowski, der Archäologe aus St. Petersburg. Ich war gestern allein bei ihm. In seinem Büro im Museum Hermitage. Am Nachmittag wollten wir uns nochmals treffen. Ich habe vergeblich gewartet. Als ich ihn dann im Museum aufsuchen wollte, war es zu spät. Sie schließen um 17.00 Uhr. Da war kein Mensch mehr.«
»Um welche Zeit sollte das Treffen stattfinden?«
»Um halb fünf. Im Café de Knijp.«
»Ja, das ist ganz in der Nähe des Museums.« Er machte eine kurze Pause und schob das Bild in seine Agenda zurück. »Zwischen vier und fünf schwamm der Kerl, oder besser gesagt, seine Leiche, bereits im Kanal am Café vorüber.«
Er amüsierte sich über ihren Gesichtsausdruck. »Entschuldige, aber es ist die Wahrheit. Hoffentlich hat der Kaffee trotzdem geschmeckt.«
Nino Zoppa starrte Couperus an. »Schon wieder einer«, stammelte er.
»Schon wieder einer?«, wiederholte Couperus.
Nore Brand klärte ihren Kollegen auf. Couperus hörte ihr mit der heitersten Miene zu.
»Ach, so ist das«, sagte er schließlich, »der dritte also. Und nun ist auch dem Professor offenbar etwas dazwischengekommen. Um die Mittagszeit muss sich jemand an seine Fersen geheftet haben. Du hattest nie eine Chance auf eine zweite Begegnung.«
Er warf ein paar Zückerchen in seinen Kaffee. »Man kontrolliert alles in diesem Museum. Ich habe mir die Videos angeschaut. Nach dir hat ihn keiner mehr lebendig gesehen. Außer dem Mörder natürlich.«
Er grinste.
»Wir gehen gleich zusammen ins Büro des Professors, aber ihr könnt hier ruhig fertig frühstücken. Der Mann wird nicht mehr lebendig und die Assistenten des Professors haben Zeit, sich etwas zu fassen. Sie sind außer sich, die Ärmsten. Was ihnen zustößt, ist für sie akademisch nicht zu begreifen.« Couperus schnaubte verächtlich. »Sie werden eine Weile brauchen, bis sie für dieses Ereignis die passende archäologische Terminologie gefunden haben.«
Nore Brand schob den Stuhl zurück.
»Nein, wir gehen jetzt. Sofort.«
»Sehr gerne, deshalb bin ich unter anderem auch da«, sagte er, erhob sich und machte eine kleine Verbeugung in ihre Richtung.
Die Fußnoten der Wissenschaftlerin
Es war ein paar Grade kälter als am Vortag. Dicke Wolken hingen über der Stadt, und das Wasser der Amstel wellte sich im harten Westwind.
Kurz nach zehn morgens war es im Museum Hermitage noch sehr ruhig. Als sie das Büro des Professors betraten, kam ihnen eine Frau entgegen. Bis auf die große Hornbrille sah sie aus, wie einem römischen Fresko entsprungen. Riesengroße braune Augen und feine Locken um die Stirn.
Sie hatte ihren langen, schmalen Körper in ein leuchtend blaues Kleid gewickelt.
Dieses Büro, das am Vortag noch vibriert hatte von der Energie des Professors, wirkte nun leer. Öde, wie irgendein Büro. Was darin mal interessant gewesen war, war weg, hatte sich in nichts aufgelöst.
Nore Brand grüßte und stellte sich vor.
Das römische Fresko reagierte verschreckt.
»Sie dürfen hier nichts berühren, hat man mir gesagt.«
»Ich weiß.«
»Sie sind also die Kommissarin?«
Nore Brand nickte. »Und Sie …?«, begann sie.
»Ich …?« Die Frau zögerte. Dann hob sie abwehrend die Hände. »Ich habe nichts getan. Er auch nicht, wir waren …«
»Entschuldigen Sie. Ich möchte nur Ihren Namen wissen.«
»Meinen Namen?« Die Frau lachte nervös.
»Natürlich. Entschuldigen Sie, bitte. Meinen Namen wollen Sie wissen. Ach, wo habe ich ihn nur hingelegt.« Sie lachte wieder. »Meinen Mantel. Wir
Weitere Kostenlose Bücher