Stollengefuester
Kunstschätze in den Berg geschoben.«
»Ja, keine internationale Zusammenarbeit in Sachen Kunst. Ein erpresserischer Gauner, der weiß, wer etwas verbergen muss, und ein paar leerstehende Kavernen für seine Ware benutzt.«
»Oder eine Gaunerin«, präzisierte Nino Zoppa, »die Polizei verbietet jede Geschlechterdiskriminierung in Wort und Schrift.«
»Danke, dass du mich daran erinnerst. Aber jetzt brauche ich einen Kaffee.«
Nino Zoppa zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. »Jetzt müssen wir die Ehre von Frau Ehrsam retten. Das gefällt mir.«
Die Ehre retten? Nore Brand schaute ihren Lehrling verblüfft an. Ja, der Kleine hatte Recht.
»Schau mich nicht so an, Nore. Komm. Wir gehen jetzt ganz unauffällig ins Zugrestaurant. Ich bin deine Eskorte. Hast du Geld dabei?«
Die verlorene Tochter
Am Freitagmorgen, es war der 26. November, saß Nore Brand in ihrem Büro und durchsuchte ihre Schubladen nach den Notizbüchlein des vergangenen Jahres. Sie hatte nachgerechnet. Acht waren es, und auf einer der vielen vollgekritzelten Seiten musste doch noch etwas sein, ein Gedanke, vielleicht sogar ein Name, irgendetwas, was sie bisher völlig übersehen hatte. Im besten Fall ein Hinweis, der ihr auf der Stelle die Augen öffnen würde.
Ein Büchlein nach dem andern tauchte auf. Sie überprüfte die Daten und legte sie in der richtigen Chronologie vor sich auf den Tisch. Sie schob die Post, die ihr jemand hübsch gestapelt hingelegt hatte, zur Seite, um genügend Platz zu haben. Da blieb ihr Blick an einem Brief hängen, den kaum der Zufall oben auf den Stapel gelegt hatte. Unbekanntes Papier, unbekannte Handschrift. Handschrift!
Fremdartig blaue Tinte.
Sie hob ihn auf.
Heinrich Merians Adresse! Wie kam dieser Brief auf ihren Tisch? Sie schaute ihn genauer an. Südafrikanische Briefmarke. Sie wendete ihn. Rose K. Ehrsam, Johannesburg. Sie riss den Umschlag auf und fand darin einen zweiten. ›Bitte weiterschicken an Kommissarin Brand‹, stand da in hohen, deutlichen Buchstaben. Sie riss den zweiten Umschlag auf.
Ihre Augen glitten über die Zeilen. Die Handschrift verriet einen energischen Drang nach vorne. Die Worte und Sätze schienen über das dünne Papier zu hasten.
Sehr geehrte Frau Brand,
Merian hat mich benachrichtigt. Er lobte Sie in den höchsten Tönen, dieser Wüstling! – Offenbar haben Sie einiges herausgefunden. Dass meine Mutter, Klara Ehrsam, am Ende ihres Lebens auch für die Polizei ein ›Fall‹ wurde, erstaunt mich nicht. Für mich war sie es ein Leben lang! Dieser Petersburger Professor hat sehr viel Geld erhalten für seine Arbeit. Sein Vorname ist Vladimir. Das weiß ich sicher.
Meine Mutter hielt ihn für ein Genie. Ich nehme an, dass er sich von ihr sein verrücktes Hobby finanzieren ließ, diese jahrelange vergebliche Suche nach dem Bernsteinzimmer. Sie war besessen davon, und er verheimlichte ihr die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens vermutlich über einige Jahre hinweg. Wenigstens hat er sie auf charmante Art hinters Licht geführt. – Als die Sache mit dem Bernsteinzimmer endgültig gescheitert war, hielt sie trotzdem an ihrem Lebensplan fest, dickköpfig, wie sie war. Sie war der Ansicht, dass da noch viele Schätze waren, die man retten musste. Vor allen möglichen Katastrophen. Heinrich Merian, ihr engster Vertrauter, hatte ihr hoch und heilig geschworen, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Doch mich hat er ins Vertrauen gezogen.
Merian! Diese Plaudertasche! Nore Brand ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Wie viele noch? Wie groß war der Kreis der Eingeweihten wirklich?
Sie las weiter.
Er war der Ansicht, dass die Tochter es erfahren musste. Aber ich will mich kurz halten. Meine Mutter ist tot. Die Umstände hätte sie selbst wohl sehr aufregend gefunden!
Nun bitte ich Sie, in Klara Ehrsams Namen, Stillschweigen zu bewahren. Das ist alles, was mir für sie zu tun bleibt. Nicht etwa, weil ich eine liebende Tochter bin, sondern weil ich ihre Pläne trotz allem für großartig halte.
Mit dem größten Dank für Ihre Diskretion und der inständigsten Bitte, diesen Brief nach dem Lesen zu vernichten, grüßt Sie hochachtungsvoll
Rose K. Ehrsam
Johannesburg
Rose K. Ehrsam.
Eine doppelte und äußerst verwirrende Verneigung: vor der Kommunistin und Revolutionärin Rosa Luxemburg und vor Katharina der Großen von Russland.
Was für eine Last, so zu heißen. Wer würde da nicht fliehen? Nore Brand steckte den Brief in den Umschlag
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