Stollengefuester
zusammen, bevor sie weitersprach. »Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass ich nicht herkam, letztes Jahr, auch nicht zur Beerdigung. Es war mir nicht möglich …« Sie suchte nach Worten.
»Sie war im Spital«, unterbrach sie ihre Begleiterin ein bisschen ungeduldig, »eine komplizierte Operation am Knie. So einfach ist das. Sie wäre gekommen, wenn es irgendwie möglich gewesen wäre. Man hat es etwas schwer mit diesen ernsthaften Kreaturen«, sagte sie zu Nore Brand, »aber Katharina ist kein Unmensch, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung.
»Ich wäre gekommen, ganz bestimmt«, bestätigte Katharina Ehrsam hastig. »Trotz allem. Ich ging ja sehr früh weg von zu Hause. Europa war knapp groß genug für meine Mutter«, lachte sie wieder, »also musste ich etwas weiter. Auf die südliche Halbkugel. Afrika hat sie nie interessiert. Zu wenig Kultur, zumindest von der Art Kultur, die ihr lebenswichtig schien.« Sie wurde wieder ernst. »Als mein Vater starb, war niemand mehr da, der ihr wirklich zu Seite stand. Er hat sie immer vor Vladimir gewarnt, das habe ich schon als Kind mitbekommen. Meine Mutter hielt es für Eifersucht. Sie lachte nur darüber.«
Sie machte eine Pause.
»Geld hat mich nie interessiert.«
»Leider. Deshalb bist du auch eine ganz miserable Partie«, warf die Begleiterin ein, »wenn da nicht die eine oder andere Qualität wäre … So, aber jetzt ist fertig mit deiner Lebensbeichte. Der Zug wartet nicht!«
Sie wandte sich mitfühlend an Nore Brand. »Ich möchte Ihren Job nicht. Alle diese familiären Scheußlichkeiten.«
Nore Brand lachte widerwillig. So war es, es ging fast ausnahmslos um private Scheußlichkeiten, das hatte diese Frau ziemlich auf den Punkt gebracht.
Wie aus dem Boden gewachsen, stand Nino Zoppa plötzlich vor ihnen. Er keuchte. Er nickte den beiden Frauen zu. »Nore«, begann er, »wir müssen …«
»Nino Zoppa, mein Assistent«, stellte Nore Brand vor.
»Freut mich, aber jetzt müssen wir uns ebenfalls beeilen«, sagte die lebhafte Begleiterin und packte ihre Tüten.
Die beiden Frauen verabschiedeten sich und eilten los.
»Wer war das?«, fragte Nino.
»Katharina Ehrsam, die Tochter der roten Klara.«
»Die große Unbekannte also«, erinnerte er sich. »Und die andere?«
»Eine Löwenjägerin, vermute ich.«
»Eine Löwenjägerin?«, wiederholte Nino Zoppa verblüfft und schaute den beiden Frauen nach.
»Das würde doch passen, oder? Ganz sicher war es die Schwiegertochter.«
»Hä?«
»Die Schwiegertochter der roten Klara.«
»Die Tochter und die …?«
»Ja, Schwiegertochter.«
»Und woher weißt du das?«
»Weil ich Augen im Kopf habe.«
Nino Zoppa drehte sich um schaute den beiden nach. Doch die waren längst in der Menschenmenge verschwunden.
»Was du immer so siehst! Übrigens, hast du gehört, Bucher hat Bastian angerufen. Deshalb habe ich dich gesucht!«, sagte Nino.
»Ich weiß. Er hatte einen Auftrag.«
Er dachte angestrengt nach.
»Dienstag!«, half sie nach.
»Ja, verdammt! Das ist ja eine Ewigkeit her!«
»Genau deshalb müssen wir uns beeilen. Wir müssen dort sein, bevor Bucher pensioniert ist.«
Besuch im Grandhotel Belvedere
Beim Forsthaus steuerte Nore Brand ihren orangen Volvo auf die Autobahn.
Nino saß grübelnd neben ihr.
»Ich kann deine Sprechblase nicht entziffern«, sagte sie.
»Da gibt’s auch nichts zu entziffern. Im Moment spaziert nur ein Ameisenzug hindurch.«
»Ja, so ungefähr hat es sich angefühlt«, lächelte Nore Brand.
»Das Leben ist schon verdammt ineffizient«, murmelte er. »Nach einem kleinen, aber sehr anstrengenden Umweg über Amsterdam fahren wir schon wieder ins Simmental hinauf.«
Nore Brand schaute ihn kurz von der Seite an. Ein Ohr war frei. »Weil keine Bauingenieure für die Wege der polizeilichen Ermittlung zuständig sind. Deshalb.«
Er schwieg eine Weile.
»Bauingenieure? Die sollen Wege bauen. Nicht verbauen. So wie hier. Baustellen, nichts als Baustellen. Diese Welt ist wirklich eine einzige Baustelle, sogar in Amsterdam war’s so«, murmelte er. »Siehst du, jetzt schneit es schon wieder.«
Nasse Schneeflocken klatschten an die Frontscheibe.
Plitsch, plitsch und platsch. Die Scheibenwischer hatten zu viel zu tun, waren immer zu spät. Ohne Unterlass klatschte neuer Schnee auf die Scheibe.
Er kurbelte das Seitenfenster herunter und versuchte, sie aufzufangen. Frische, kalte und nasse Luft drang in den Wagen.
»Meine Großmutter sagte immer, es schneit
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