Stollengefuester
die Frau aus, die sie suchte? Wie alt war sie?
»Frau Brand? Kommissarin Brand?«
Nore Brand drehte sich um.
Eine Frau streckte ihr die Hand entgegen. Sie trug einen eleganten hellen Wintermantel. Was hatte sie denn erwartet? Tweed vielleicht. Wie die Mutter.
»Ich bin Rose. Rose Ehrsam. Aber sagen Sie einfach Katharina zu mir.«
Die Frau lächelte.
Nore Brand erinnerte sich an das Bild, das sie bei Fräulein von Wyberg gesehen hatte. Die gleiche Körperhaltung, das Gesicht lachend, die Frische der Jugend war längst gewichen.
»Ich bin froh, dass es geklappt hat. Ich habe gehofft, dass Sie einen Moment Zeit hätten. Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Entschuldigen? Wofür denn?«
»Vielleicht erinnern Sie sich. Ich hatte Sie in einem Brief gebeten, das Geheimnis meiner Mutter zu wahren. Das war vor einem Jahr. Ein unnötig dramatischer Brief, vermute ich.« Die Frau lächelte entschuldigend. »Sie haben nie darauf reagiert. Begreiflich. Man darf die Polizei nicht bitten zu schweigen, oder? Dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Nore Brand fühlte sich ertappt; sie schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ich habe Ihren Brief erst heute Morgen erhalten. Elvira Merian hat ihn gefunden. Außerdem …« Nore Brand verstummte. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen zu schweigen.
Oder ihr Versäumnis zu reden, aber das spielte längst keine Rolle mehr.
»Ja, der Anwalt, Merian«, sprach die Frau zögernd weiter, »ich habe gehört, er ist tot. Er war mehr als ein Anwalt für meine Mutter. Er war ein Freund.«
Sie schaute Nore Brand fragend an. »Und der Direktor ist abgestürzt? Meine Tante hat so etwas in der Zeitung gelesen. Sie war nicht mehr ganz sicher, aber hat das auch damit zu tun? Mit ihr?«
»Mir ihr nicht«, sagte Nore Brand, »es war eher das Geld. Sie hatte doch …«, sie zögerte und suchte nach Worten, die nicht verletzten, »… eine sehr große finanzielle Reichweite.«
Katharina Ehrsam lächelte überrascht.
»Ja, so könnte man das sagen, natürlich. Ich glaube, am Schluss wusste sie nicht mehr genau, was mit ihrem Vermögen alles angestellt wurde. Sie wusste, dass Vladimir immer mehr brauchte. Nach unserem letzten Gespräch war ich sicher, dass sie dafür eine Erklärung wollte. Sie plante eine Reise nach St. Petersburg. Da war doch seine letzte Ausstellung.«
»Nein, die letzte wird in diesen Tagen eröffnet, im Museum Hermitage in Amsterdam. Aber das erlebt er nicht mehr. Man hat seine Leiche vorletzte Nacht in einer Gracht gefunden.«
Katharina Ehrsams Augen weiteten sich.
»Vladimir ist tot?«
Plötzlich trat eine Frau von hinten an sie heran und umfasste sie.
Katharina Ehrsam fuhr zusammen.
»Was? Du?«
Die Frau lachte übermütig.
»Natürlich! Wer denn sonst?«
Die Unbekannte wirkte sehr lebhaft und gut durchlüftet. Sie schaute Nore Brand fragend an.
»Vladimir ist auch tot«, sagte Katharina fassungslos.
»Und jetzt meinst du sicher, dass du die Nächste bist!«
»Lass das!«, sagte Katharina.
»Das war nur ein Witz! Entschuldige! Aber wie ist das denn passiert?«
»Man hat ihn in einer Gracht gefunden. In Amsterdam.«
»Und jetzt?«
Katharina schaute zu Nore Brand. »Das weiß nur Frau Brand.«
»Und wir können nicht helfen. Oder?«
»Nein, kaum«, sagte Katharina.
»Dann nützt es auch nichts, wenn wir jetzt Trübsal blasen! Da, schau her!«
Die Frau hielt triumphierend ein paar Tüten hoch. »Ich war auf Weihnachtssafari! Ich habe mich total ruiniert!« Sie wandte sich zu Nore Brand. »Katharina vergisst immer die naheliegendsten Dinge«, sagte sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Also, Sie sind Frau Brand, die Kommissarin«, stellte sie fest, »freut mich sehr.« Ihr Händedruck war kräftig.
Sie wandte sich an Katharina. »Unser Zug fährt bald, meine Liebe!«
Katharina Ehrsam schien ihr nicht zuzuhören.
»Dass Vladimir jetzt auch tot ist …«, begann sie.
»… spricht nicht unbedingt für deine Familie, das willst du doch sagen, oder?«, warf die Frau an ihrer Seite spöttisch ein.
»Hatte Ihre Mutter Verdacht geschöpft?«, fragte Nore Brand.
Katharina Ehrsam dachte nach. »Sie war es gewohnt, den Menschen in ihrer Umgebung überlegen zu sein. Irgendwann ist ihr vielleicht der Gedanke gekommen, dass auch die andern ihre Spiele spielten, mit ihr.«
Ihre Begleiterin deutete auf die Uhr.
»Ja, wir müssen los«, sagte sie, »leider, der Zug wartet nicht. Aber da ist noch etwas.« Sie presste die Lippen kurz
Weitere Kostenlose Bücher