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Stolperherz

Stolperherz

Titel: Stolperherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boje Verlag
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unserem Haus, obwohl dort nur höchstens alle zwanzig Minuten ein Auto der anderen Anlieger vorbeikam. Ich weigerte mich, auch nur einen Meter weit zu fahren, ließ mich beim kleinsten Versuch sofort von ihr auffangen und schmiss das neue rote Fahrrad, das ich zum Geburtstag bekommen hatte, schließlich wütend gegen die Bordsteinkante.
    »Tu immer das, wovor du dich am meisten fürchtest, kleine Sanny«, hatte Großtante Lilo damals mit ihrer gewohnt sanften Stimme gesagt, »dann wirst du niemals Angst haben.«
    Erst Jahre später habe ich verstanden, was sie damals gemeint hatte, und beim Lesen herausgefunden, dass Tante Lilo ein sehr bekanntes Zitat für mich umformuliert hatte. Sie fehlte mir sehr seit ihrem Tod, sie hatte für jede Situation immer die richtigen Worte gefunden und war außerdem die beste Trösterin, die ich je gekannt hatte.
    Was sie wohl in meiner Situation getan hätte?
    Sie hätte sicher gesagt, dass ich auf meinen Bauch hören sollte. Und der sagte mir eindeutig, dass ab morgen alles anders werden würde. Ich war mir nicht ganz im Klaren darüber, ob es eine neue Sanny sein würde, die da morgen früh um fünf an den Tourbussen warten würde, oder eine Sanny, die es schon längst gab. Eine Sanny nämlich , die zum ersten Mal so sein konnte, wie sie vielleicht wirklich war.

4. KAPITEL: D EAL
    »Okay. Ich fahre.«
    Mit diesen Worten stellte ich meinen Rucksack auf den Küchentisch, an dem meine Mutter gerade dabei war, Gemüse-Julienne für das Abendessen zu fabrizieren. Natürlich konnte sie keinen normalen Gemüseauflauf machen, irgendwas mit Käsesoße drin, sondern musste das Gemüse in feine Streifen schneiden, die alle gleich lang waren und den unsäglichen Namen Julienne trugen. Ich wettete, dass sie die Julienne dünsten würde, statt zu braten, für die Gesundheit.
    »Bitte?«, fragte sie und sah von ihrer Gemüseschnipselei auf.
    »Ich fahre nach Boltendings. Ich mache die Kur.«
    Augenblicklich ließ Lisa das Messer und die Selleriestange auf das Holzbrett vor sich fallen und stand auf, um mich zu umarmen.
    »Sanny-Schatz!«
    Das ließ ich mir für einen kurzen Moment gefallen, bevor ich hinterherschob: »Allerdings nur zu meinen Bedingungen.«
    »Was für Bedingungen?«
    »Erstens: Ich fahre alleine, mit dem Zug. Und die Verabschiedung machen wir hier, du bringst mich nicht zum Bahnhof.«
    »Aber …«
    »Zweitens: Es gibt keine Kontrollanrufe und keine Besuche. Ich melde mich, wenn ich es möchte. Es gibt keine Anrufverpflichtung.«
    »Aber Sanny, das geht doch nicht!«, warf Lisa ein, die mich inzwischen erschrocken anstarrte. »Ich muss doch wissen, wie es dir geht!«
    Ich baute mich vor meiner Mutter auf. Lisa war nicht besonders groß und so sah ich ihr direkt in die Augen.
    »Du hast mich angemeldet, ohne mir ein Wort zu sagen, ohne es vorher mit mir zu besprechen. Und obwohl du wusstest, dass ich das unter keinen Umständen machen will, hast du nicht davor zurückgeschreckt, mich vor vollendete Tatsachen zu stellen. Wenn ich jetzt einwillige, ist es nur fair, wenn es zu meinen Bedingungen passiert. So oder gar nicht. Du kannst mich nicht in die verfluchte Ostseeklinik tragen.«
    »Du bist doch noch ein Kind!«
    »Ich bin fast sechzehn!«
    »Fünfzehn!«
    »Aber fast !«
    Lisa seufzte tief. Sie hatte sich wieder an den Küchentisch gesetzt, die Arme aufgestützt und ihr Gesicht in den Händen vergraben.
    »Du weißt, dass ich das nicht machen kann«, murmelte sie in ihre Handflächen.
    »Dann fahre ich nicht. Niemals.«
    Sie sah mich an. »Ist es wegen der Scheidung?«
    »Nein. Es ist wegen mir. Ich will es so. So oder gar nicht.«
    Sie atmete pustend aus. »Und du rufst von dir aus an? Regelmäßig?«
    Ich nickte. »Ja. Ich verspreche es. Wenn du versprichst, dich an die Regeln zu halten.«
    Lisa holte ein weiteres Mal tief Luft und atmete langsam und laut aus. Ich wusste, wie sehr sie gerade mit sich kämpfte.
    »Du bist dir hoffentlich im Klaren darüber, was du da von mir verlangst.«
    »Nicht mehr als du von mir«, antwortete ich mit fester Stimme. Ich war beeindruckt von mir selbst und meinem eiskalten Verhandlungsgeschick. Aber Lisa wollte so dringend, dass ich diese blöde Kur machte, dass sie keine große Wahl hatte, wenn sie mich ernst nahm. Und so, wie ich hier vor ihr stand, tat sie das auch, denn ich hatte eine neue Eigenschaft an mir entdeckt, die mir auf Anhieb zusagte: Entschlossenheit. Vielleicht tragen wir alle diese Entschlossenheit bereits in uns und

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