Stolz und Verlangen
»Möchten Sie den Tee hier einnehmen oder mit Seiner Lordschaft?«
»Mit Melville, danke.«
Eliza sah auf den ungewöhnlich hohen Poststapel. Rasch blätterte sie durch die Briefe, trennte Melvilles Post von ihrer. Bei ihrer eigenen Post handelte es sich größtenteils um Einladungen, allerdings weit mehr, als sie gewöhnlich erhielt. Den Kopf über die plötzliche Flut an Einladungen schüttelnd, nahm sie Melvilles Briefe und machte sich auf die Suche nach ihm. Da sie ihn in seinem Arbeitszimmer nicht antraf, ging sie weiter zum Wintergarten. Dort fand sie ihn dabei vor, wie er gerade die Pflanzen goss, mit denen er experimentierte. Das Licht der Nachmittagssonne strömte durch die Fenster und erzeugte in dem abgeschlossenen Raum eine schwüle Treibhausluft.
»Guten Tag, Mylord«, sagte sie, während sie eintrat.
Melville bot ihr die Wange zum Kuss. »Eliza«, sagte er aufgeregt. »Erinnerst du dich an die Kreuzung, von der ich dir erzählt habe? Sieh nur, das Experiment ist geglückt.«
Eliza musterte die beiden unterschiedlichen Pflanzen, die nun am Stiel miteinander verbunden waren. Es erschien ihr wie ein Symbol für ihre Beziehung mit Jasper. »Schön. Ich kann Ihre Freude darüber verstehen.«
»Normalerweise gedeihen diese Pflanzen am besten in tropischem Klima, deshalb bin ich doppelt erfreut über den Erfolg.« Er strahlte vor Stolz, doch als er die Briefe in ihren Händen entdeckte, verblasste sein Lächeln und er streckte seufzend die Hand aus.
Eliza überreichte ihm die Post. »Sind Sie mit Ihren Antwortschreiben vorangekommen?«
Seine betretene Miene sagte bereits alles.
Tadelnd schüttelte sie den Kopf. »Vermissen Sie denn nie die Gesellschaft anderer Menschen, Mylord?«
»Ich habe hier alles, was ich brauche.« Er warf die Post auf den mit Blumenerde übersäten Tisch.
»Vielleicht brauchen die anderen Menschen Sie. Immerhin halten sie die Freundschaft mit Ihnen in Form von Briefen aufrecht, obwohl Sie nicht darauf antworten.«
Melvilles Situation bereitete Eliza zunehmend Sorge. Was würde mit ihm geschehen, wenn sie nicht mehr zusammen unter einem Dach lebten? Sie war seine einzige menschliche Verbindung zur Außenwelt. Würde er sich der Gesellschaft komplett entfremden, sich nur noch auf die Neuigkeiten in den Zeitschriften beschränken? Der bloße Gedanke daran brach ihr das Herz.
Er fuhr mit dem Gießen der Pflanzen fort. »Wolltest du nicht auch bis vor Kurzem ein zurückgezogenes Leben führen? Mit beschaulichen Spaziergängen, guten Büchern und ein wenig Aktenstudium?«
»Ich wäre nicht allein gewesen, weil ich Sie habe.«
»Und wie lange noch? Irgendwann wird Gott mich zu sich heimberufen.«
Eliza malte mit den Fingern Kreise in die Blumenerde. »Dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne.«
Melville sah sie scharf an, sprach aber zum Glück nicht weiter über dieses traurige Thema. Stattdessen sagte er: »Wie auch immer, ich stelle mit Erleichterung fest, dass du aus dem Schatten deiner Mutter getreten bist. Es tut meinem alten Herzen gut zu wissen, dass du jemanden gefunden hast, mit dem du das Leben teilen möchtest.«
»Der Schatten meiner Mutter«, wiederholte sie leise. »Bin ich ihm tatsächlich entronnen? Ich sehe ihr ähnlich und habe einen Mann gewählt, der meinem Vater ähnlich ist. Vielleicht habe ich ihren Schatten übernommen und zu meinem eigenen gemacht.«
»Du hast ihre Schönheit«, stimmte Melville zu. »Aber auch Standfestigkeit, an der es ihr mangelte. Und du bist so stark und ruhst in dir. Georgina hingegen war oft haltlos.«
»Du meinst, sie war verantwortungslos.«
»Ich würde eher sagen labil. Sie war wie ein steuerloses Schiff, schwankte von einer Seite zur anderen.« Er schnippte einen kleinen Käfer von einem Pflanzenblatt. »Georgina war der Grund, weshalb ich mich für Botanik zu interessieren begann. Ich hoffte, eine Kräutermischung zu finden, die ihre extremen Stimmungsschwankungen lindern könnte.«
Eliza erinnerte sich nur allzu gut an diese Stimmungen. Georgina konnte eine Woche lang übersprudelnd vor Glück sein und in der Woche darauf so niedergeschlagen, dass sie tagelang im Bett blieb. »Sie glauben, es war ein körperliches Leiden? Ich dachte immer, sie hätte einfach nur ein schlechtes Urteilsvermögen.«
»Ich war bereit, jede Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Ich hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um einen Schlüssel zu ihrem Glück zu finden, genauso wie ich es auch für dich tun würde.«
»Mr. Bond
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