Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
überaus entwickelten Standesbewußtsein mußte ihm nur allzuleicht das, was Elisabeth als geringfügig und lächerlich abtat, ganz selbstverständlich und durchaus beachtenswert vorkommen und ihn bestimmen, künftig dem Glück makelloser Familienehre alles andere hintanzustellen. Sie würde ihn dann nie wiedersehen. Vielleicht traf Lady Catherine schon jetzt in London mit ihm zusammen, und seine Absicht, wieder nach Netherfield zurückzukehren, würde damit natürlich hinfällig werden.
»Wenn also innerhalb der nächsten Tage ein Brief ankommt«, fügte sie in Gedanken hinzu, »in dem er seinem Freund erklärt, er sei irgendwie verhindert, dann werde ich wissen, wie das zu verstehen ist, und werde endgültig aufhören zu hoffen.«
Das Erstaunen der übrigen Familienmitglieder war gebührend groß, als sie erfuhren, welch hohen Besuch sie gehabt hatten. Aber sie taten Elisabeth den Gefallen, dieselben Vermutungen daran zu knüpfen, mit denen schon Mrs. Bennet ihre Neugierde befriedigt hatte, und verschonten sie folglich mit peinlichen Neckereien.
Als sie am folgenden Morgen herunterkam, begegnete sie ihrem Vater, der ihr mit einem Brief in der Hand entgegentrat.
»Lizzy«, sagte er, »ich wollte dich eben suchen; komm doch bitte mit in mein Zimmer.«
Sie folgte ihm, und ihre Neugierde, was er ihr wohl zu sagen haben mochte, war äußerst gespannt; sie vermutete, daß es sich um den Brief handelte. Der Gedanke schoß ihr durch den Kopf, er könne von Lady Catherine sein, und sie stellte sich voller Schrecken vor, was für eine langwierige Erklärung ihr bevorstehe.
Sie setzte sich zu ihrem Vater vor den Kamin, und er begann: »Ich habe heute morgen einen Brief erhalten, der mich höchlichst erstaunt hat. Da er sich hauptsächlich mit dir beschäftigt, sollst du auch wissen, was darin steht. Ich wußte gar nicht, daß ich demnächst zwei Töchter zum Altar führen werde, aber laß dich immerhin zu deiner großartigen Eroberung beglückwünschen.«
Eine tiefe Röte bedeckte Elisabeths Gesicht; denn ihr war augenblicklich klar, daß der Brief nicht von der Tante, sondern von dem Neffen sei. Nur war sie sich noch nicht schlüssig, ob sie sich lieber darüber freuen solle, daß er sich überhaupt erklärte, oder gekränkt sein, daß er ihr nicht selbst geschrieben hatte. Ihr Vater fuhr fort: »Du siehst aus, als ob du wüßtest, worum es sich handelt. Junge Damen pflegen ja in derlei Dingen sehr scharfsichtig zu sein; aber ich glaube, selbst du wirst überrascht sein, wenn du den Namen deines neuen Bewunderers erfährst. Der Brief ist von Mr. Collins.«
»Von Mr. Collins? Was hat der uns denn wieder mitzuteilen?«
»Selbstverständlich etwas sehr Wichtiges. Er beginnt mit Glückwünschen zu Janes bevorstehender Hochzeit, von der er wahrscheinlich durch irgendeine seiner netten, klatschsüchtigen Schwägerinnen erfahren haben wird. Ich will deine Neugierde nicht auf die Folter spannen und überspringe daher seine diesbezüglichen Ergüsse. Aber dann kommst du an die Reihe:
›Nachdem ich Ihnen somit zu diesem glücklichen Ereignis die aufrichtigsten Glückwünsche von meiner Frau und mir übermittelt habe, erlauben Sie mir, jetzt eine kurze Andeutung über eine andere Angelegenheit zu machen, über die wir von derselben Quelle unterrichtet worden sind. Ihre Tochter Elisabeth so geht das Gerücht — werde den Namen Bennet nicht mehr lange tragen, nachdem ihre ältere Schwester ihn abgelegt hat, und die Wahl ihres Herzens sei auf einen Mann gefallen, den man ohne Übertreibung zu den bedeutendsten Persönlichkeiten unseres Landes zählen kann.‹
»Kannst du raten, Lizzy, wen er damit meint?« —
›Dieser junge Herr ist in einer einzigartigen Weise mit allem gesegnet, was eines Menschen Herz begehren kann: mit ausgedehnten Besitztümern, einem der vornehmsten alten Familiennamen und einflußreichen Beziehungen. Jedoch trotz all dieser Vorzüge möchte ich meine Cousine Elisabeth und auch Sie selbst, verehrter Vetter, darauf hinweisen, welchen Unannehmlichkeiten Sie sich aussetzen, wenn Sie dem Antrag dieses Herrn stattgeben, so verlockend es auch sein mag, ihn anzunehmen.‹
»Hast du irgendeine Ahnung, wer dieser Herr ist, Lizzy? Jetzt kommt nämlich des Rätsels Lösung.«
›Mein Anlaß für diese Warnung ist folgender: ich habe allen Grund zu der Vermutung, daß seine Tante, Lady Catherine de Bourgh, einer solchen Verbindung keinerlei Wohlwollen entgegenzubringen gedenkt.‹
»Siehst du, Mr. Darcy ist
Weitere Kostenlose Bücher