Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
vertrauter Freund. Mr. Darcy hob immer wieder die große Dankbarkeit hervor, zu der ihn meines Vaters tätige Hilfe verpflichtete, und als er meinem Vater kurz vor dessen Tode freiwillig das Versprechen gab, für mich sorgen zu wollen, da tat er es bestimmt ebensosehr, um seine Dankesschuld seinem alten Freunde gegenüber abzutragen, wie aus Liebe zu mir.«
»Wie häßlich von Mr. Darcy!« rief Elisabeth aus. »Wenn er schon keiner besseren Regung nachgeben wollte, dann hätte er doch zu stolz sein müssen, um so unehrenhaft zu handeln; anders kann man das nicht nennen!«
»Ja, es ist wirklich unerklärlich«, erwiderte Wickham, »denn seine ganze Handlungsweise wird doch sonst von diesem Stolz beherrscht, und der Stolz hat sich oft als sein bester Freund bewiesen; keine andere Regung hätte es je vermocht, ihn auf der geraden Bahn zu halten. Aber wir sind alle zu Zeiten unberechenbar, und sein Verhalten gegen mich wurde eben von einem noch stärkeren Gefühl bestimmt, als es sein Stolz ist.«
»Dieser abscheuliche Hochmut sollte sein Freund gewesen sein?«
»Ja, denn er hat es bewirkt, daß Darcy häufig freigebig und großzügig auftritt. Dann gibt er den Bedürftigen mit vollen Händen, unterhält ein gastfreundliches Haus, erläßt seinen Mietern die Zahlung und hilft den Armen. Familienstolz ist das und auch Sohnesstolz; denn er ist sehr stolz auf die Stellung, die sein Vater einnahm. Der Wunsch, der Familie Ehre zu machen und der eigenen Beliebtheit keinen Abbruch zu tun, ist eine starke Triebkraft. Er besitzt auch noch einen Bruderstolz, der ihn zusammen mit einer gewissen brüderlichen Liebe zu einer starken Stütze seiner Schwester macht; Sie werden von ihm nie anders als von einem guten und liebevollen Bruder sprechen hören.«
»Wie ist Miss Darcy?«
Wickham schüttelte den Kopf.
»Ich wünschte, ich könnte antworten: sehr liebenswert. Es schmerzt mich tief, von einer Darcy nichts Gutes sagen zu können. Aber sie ähnelt ihrem Bruder zu sehr; sie ist stolz, allzu stolz. Als Kind war sie freundlich und zutraulich und mir äußerst zugetan; aber jetzt ist sie mir ganz fremd geworden. Sie sieht gut aus, ist etwa sechzehn Jahre alt und, soviel ich gehört habe, sehr gebildet. Seit dem Tode ihres Vaters wohnt sie in London bei einer Dame, die ihre Erziehung leitet.«
Sie versuchten danach, von diesem und jenem zu reden, aber nach einer längeren Pause kehrte Elisabeth zu dem Thema zurück, das sie am meisten beschäftigte.
»Wie mag es nur kommen, daß Mr. Bingley, der doch die Liebenswürdigkeit in Person ist, sich zu einem solchen Menschen hingezogen fühlt? — Kennen Sie Mr. Bingley?«
»Nein, gar nicht.«
»Er ist ein reizender, geselliger und fröhlicher Mensch. Ob er Mr. Darcy vielleicht noch nicht durchschaut hat?«
»Das ist sehr gut möglich. Mr. Darcy versteht sich darauf, gefällig zu erscheinen, wenn er sich etwas davon verspricht. An Fähigkeiten mangelt es ihm ja durchaus nicht. Er kann ein unterhaltsamer Gesellschafter sein, wenn es sich für ihn lohnt. Unter seinesgleichen ist er ja ein ganz anderer Mensch, als wenn er mit Leuten zusammen ist, denen er sich überlegen fühlt. Sein Dünkel bleibt immer der gleiche; aber unter Umständen hält er es für richtig, je nachdem den Freimütigen, den Rechtlichen, den Ernsten, den Vernünftig-Kalten und sogar den Liebenswürdigen zu spielen: das richtet sich ganz nach der Stellung und dem Vermögen des anderen.«
Bald darauf ging die Partie Whist zu Ende, und die Spieler versammelten sich um den Lottotisch; Mr. Collins nahm zwischen Elisabeth und Mrs. Philips Platz. Viel Glück habe er nicht gehabt, vertraute er seiner Gastgeberin auf ihre höfliche Nachfrage hin an; das heißt, er habe nicht ein einziges Spiel gemacht. Aber als Mrs. Philips ihn deshalb bedauerte, versicherte er ihr mit großer Würde, das spiele gar keine Rolle, Geld bedeute ihm nichts; er bäte sie, sich deshalb keine Gedanken zu machen.
»Ich bin mir dessen wohl bewußt«, sagte er, »daß man mit den Launen des Spiels rechnen muß, wenn man sich an einen Kartentisch setzt. Glücklicherweise erlaubt mir mein Einkommen, einen Verlust von fünf Schilling als nicht der Rede wert zu erachten. Zweifellos gibt es manch einen, der nicht dasselbe von sich sagen könnte, aber dank Lady Catherines Güte bin ich nunmehr in weitestem Maße der Notwendigkeit enthoben, auf Kleinigkeiten achthaben zu müssen.« Wickham horchte auf; er betrachtete Mr. Collins einige Augenblicke und
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