Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
begreife ich nicht, wieso die weibliche Linie bei der Erbfolge übergangen werden soll. In Sir Lewis de Bourghs Familie ist es jedenfalls nicht üblich gewesen. Können Sie Klavier spielen und singen, Miss Bennet?«
»Ein wenig.«
»Ausgezeichnet! Dann soll es uns freuen, wenn wir Sie gelegentlich einmal hören dürfen. Unser Instrument ist ganz hervorragend, wahrscheinlich weitaus besser, als … Können Ihre Schwestern auch spielen und singen?«
»Nur eine.«
»Warum haben Sie es nicht alle erlernt? Sie hätten es alle lernen sollen. Alle Webbs spielen Klavier, und deren Vater ist nicht so wohlhabend wie der Ihre. Können Sie zeichnen?«
»Nein, leider gar nicht.«
»Was? Keine von Ihnen allen?«
»Nein, nicht eine.«
»Das verstehe ich nicht! Aber Sie hatten vielleicht keine Gelegenheit dazu. Ihre Mutter hätte Sie jedes Frühjahr nach London schicken müssen, um Unterricht zu nehmen.«
»Meine Mutter hätte das schon gern getan, aber Vater verabscheut London.«
»Wohnt Ihre Erzieherin noch bei Ihnen?«
»Wir haben nie eine Erzieherin gehabt.«
»Keine Erzieherin! Wie ist denn so etwas möglich? Fünf Töchter und keine Erzieherin! Das ist mir noch nie vorgekommen! Ihre Mutter muß sich ja geradezu zu einer Sklavin Ihrer Erziehung erniedrigt haben!«
Elisabeth konnte schon kaum noch ihr Lächeln unterdrücken, als sie versicherte, daß es nicht ganz so schlimm gewesen sei.
»Liebes Fräulein, wenn ich Ihre Mutter gekannt hätte, wäre ich bestimmt in sie gedrungen, eine Erzieherin für ihre Töchter anzustellen. Meiner Meinung nach ist keine Erziehung ohne regelmäßigen und gründlichen Unterricht möglich, und den zu geben ist nur eine gute Erzieherin befähigt. Gehen Ihre jüngeren Geschwister schon in Gesellschaft, Miss Bennet?«
»Jawohl, gnädige Frau, alle.«
»Alle?! Alle fünf schon? Sehr seltsam! Und sie sind doch gewiß noch sehr jung?«
»Ja, die Jüngste ist noch nicht ganz sechzehn. Sie ist vielleicht wirklich noch etwas jung, um auszugehen. Aber offen gestanden, gnädige Frau, schließlich hat doch die Jüngste ein ebenso gutes Recht, ihre Jugend zu genießen wie die Älteste!«
»Mein Gott«, sagte Lady Catherine, »für Ihr Alter haben Sie aber eine sehr sichere eigene Meinung! Sagen Sie, wie alt sind Sie?«
»Mit drei jüngeren, aber erwachsenen Geschwistern können gnädige Frau nicht erwarten, daß ich mein Alter verrate«, erwiderte Elisabeth lächelnd.
Lady Catherine war offensichtlich höchst überrascht, keine genaue Antwort zu erhalten. Elisabeth schloß daraus, daß sie wohl die erste war, die es gewagt hatte, soviel hochgeborene Unverfrorenheit für nichts zu achten.
»Über zwanzig können Sie doch bestimmt nicht sein — da haben Sie es doch noch nicht nötig, Ihr Alter zu verheimlichen.«
»Über zwanzig bin ich schon, aber noch nicht über einundzwanzig.«
Der Tee war getrunken; die Herren gesellten sich wieder zu den Damen, und die Kartentische wurden aufgestellt. Lady Catherine, Sir William und Mr. und Mrs. Collins nahmen an dem einen Tisch Platz; und die beiden jungen Mädchen durften zusammen mit Mrs. Jenkinson an dem anderen Tisch mit Miss de Bourgh spielen. Sehr geistvoll ging es hier nicht zu; gesprochen wurde nur, soweit das Spiel es erforderte, außer wenn Mrs. Jenkinson ihrer Besorgnis Ausdruck verlieh, es könne Miss de Bourgh zu warm oder zu kalt, zu hell oder zu dunkel sein.
Am anderen Tisch führte Lady Catherine das große Wort, rügte die Fehler, die die anderen machten, und erzählte allerlei Geschichten, in denen sie die Hauptrolle spielte. Mr. Collins erfüllte seine gewöhnliche Aufgabe, das heißt, er sagte ja zu allem, was Lady Catherine sagte, dankte ihr für jedes gewonnene Spiel und bat um Entschuldigung, wenn er glaubte, zu oft gewonnen zu haben. Sir William hatte keine Zeit zum Reden; er war bemüht, sich alles, was er hörte, vor allem die erlauchten Namen genau zu merken.
Als Lady Catherine und ihre Tochter genug hatten, wurde das Spiel abgebrochen, Mrs. Collins der Wagen angeboten, das Angebot dankbar angenommen und der Befehl zum Vorfahren gegeben. Man stand noch eine Weile am Feuer, um Lady Catherine das Wetter für morgen bestimmen zu hören. Dann wurde der Wagen gemeldet, und unter allen Dankesphrasen, die Mr. Collins zu Gebote standen, und ebensovielen Verbeugungen von Sir William verabschiedete man sich. Kaum saß man im Wagen, als Elisabeth von ihrem Vetter aufgefordert wurde, ihr Urteil über alles Gesehene und Erlebte
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