Stoner: Roman (German Edition)
Bibliothekshinweise geben, um Sie vorläufig zu beschäftigen.«
Er schwieg. Viele Studenten beugten sich über ihre Tische und schrieben seine Worte eifrig mit; einige musterten ihn unverwandt mit einem verstohlenen Lächeln, das klug und verständnisvoll wirken sollte, andere dagegen starrten ihn in offenem Erstaunen an.
»Die Grundlagen für diesen Kurs«, erklärte Stoner, »finden Sie in der Anthologie von Loomis und Willard; wir werden Beispiele mittelalterlicher Lyrik und Prosa unter dreierlei Blickwinkeln genauer betrachten, zum einen als für sich bedeutsame literarische Werke, zum anderen als Exempel für die Anfänge von Stil und Methode in der englischen Literatur und zum dritten als rhetorische wie grammatische Lösungen von Diskursproblemen, die selbst heute noch von einigem praktischen Wert und Nutzen sein können.«
Mittlerweile hatten fast alle Studenten aufgehört, sich Notizen zu machen, und den Kopf gehoben; selbst das klügste Lächeln wirkte nun recht angespannt, und einige Hände wedelten in der Luft. Stoner zeigte auf einen jungen Mann mit Brille und dunklem Haar, dessen Hand ruhig aufragte.
»Dies ist doch der Grundkurs Englisch eins, Sir, Sektion vier?«
Stoner lächelte den jungen Mann an. »Wie heißen Sie, bitte?«
Der Junge schluckte. »Jessup, Sir. Frank Jessup.«
Stoner nickte. »Mr Jessup also. Ja, Mr Jessup, dies ist der Grundkurs Englisch eins, Sektion vier; und ich heiße Stoner – beides hätte ich zweifellos zu Beginn meiner Ausführungen erwähnen sollen. Haben Sie noch eine weitere Frage?«
Der Junge schluckte erneut. »Nein, Sir.«
Stoner nickte wieder und schaute sich wohlwollend im Raum um. »Hat sonst noch jemand eine Frage?«
Die Studenten starrten ihn an; er sah kein Lächeln, und einige Münder hingen weit offen.
»Nun gut«, sagte Stoner, »dann werde ich fortfahren. Wie zu Beginn des Seminars gesagt, gehört es zu den Absichten dieses Kurses, bestimmte literarische Werke aus der Zeit zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert genauer zu analysieren. Dabei haben wir einige Hürden der Historie zu überwinden, darunter linguistische und philosophische, soziale und religiöse, theoretische und praktische Schwierigkeiten. Eigentlich wird uns sogar unsere gesamte Bildung im Weg stehen, denn die uns gewohnte Art und Weise, über die Natur der Erfahrung zu denken, bestimmt unsere Erwartungen ebenso radikal, wie die Gewohnheiten des mittelalterlichen Menschen die seinen bestimmt haben. Zu Beginn wollen wir daher einige dieser Denkgewohnheiten näher betrachten, unter denen der mittelalterliche Mensch gelebt, gedacht und geschrieben hat …«
An diesem ersten Unterrichtstag behielt er die Studenten nicht bis zum Ende da. Nach kaum der Hälfte der Zeit brachte er seine vorläufigen Bemerkungen zu Ende, gab ihnen aber übers Wochenende eine Arbeit auf.
»Ich möchte, dass Sie mir einen kurzen Aufsatz, höchstens drei Seiten, darüber schreiben, was Aristoteles unter topos verstand – ein Wort, das wir nur recht unzureichend mit Thema übersetzen. Eine ausführliche Erörterung der topoi können Sie im zweiten Buch der Rhetorik von Aristoteles nachlesen, und in Lane Coopers Ausgabe gibt es eine Einführung, die Sie gewiss hilfreich finden werden. Ihren Aufsatz erwarte ich am Montag. Das wäre für heute alles.«
Nachdem er das Seminar entlassen hatte, sah er seine Studenten, die sich nicht von der Stelle rührten, einen Moment lang besorgt an. Dann nickte er ihnen kurz zu und verließ den Raum, die braune Mappe unter dem Arm.
Am Montag hatte nicht einmal die Hälfte den Aufsatz geschrieben; er entließ alle, die ihre Arbeit abgaben, und verbrachte den Rest der Stunde mit den verbleibenden Studenten, sprach mit ihnen immer wieder das zugewiesene Thema durch, bis er davon überzeugt war, dass sie es begriffen hatten und den Aufsatz bis Mittwoch schreiben konnten.
Am Dienstag fiel ihm auf dem Flur vor Lomax’ Büro eine Gruppe Studenten auf, in denen er Teilnehmer seiner ersten Seminarstunde erkannte. Als er an ihnen vorüberging, wandten sie sich ab, senkten den Blick zu Boden, schauten an die Decke oder musterten die Tür zu Lomax’ Büro. Er lächelte vor sich hin, ging auf sein Zimmer und wartete auf den Anruf, der nun gewiss kommen würde.
Er kam um zwei Uhr nachmittags. Stoner griff nach dem Hörer, meldete sich und hörte die so höfliche wie eiskalte Stimme von Lomax’ Sekretärin. »Professor Stoner? Professor Lomax möchte, dass Sie, so bald es geht,
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