Stoner: Roman (German Edition)
aber unbedingt noch heute Nachmittag, Professor Ehrhardt aufsuchen. Professor Ehrhardt erwartet Sie.«
»Wird Lomax dort sein?«, fragte Stoner.
Die Sekretärin schwieg schockiert, dann fuhr sie unsicherfort: »Ich … ich glaube nicht – er ist bereits verabredet. Aber Professor Ehrhardt ist ermächtigt …«
»Sagen Sie Lomax, er sollte lieber da sein. Sagen Sie ihm, ich bin in zehn Minuten in Ehrhardts Büro.«
Joel Ehrhardt war ein junger Mann Anfang dreißig mit beginnender Glatze. Drei Jahre zuvor war er von Lomax an den Fachbereich geholt worden, und als man herausfand, dass er ein netter, ernster Mann ohne besondere Talente und ohne jede Begabung fürs Unterrichten war, hatte man ihm die Verantwortung für das Erstsemesterprogramm anvertraut. Sein Büro war ein kleines Kabuff am äußersten Ende des großen Saales, in dem an die zwanzig jüngere Dozenten ihre Tische hatten. Um dorthin zu gelangen, musste Stoner durch den ganzen Raum gehen. Als er an den Tischen vorüberkam, blickten einige Dozenten auf, grinsten unverfroren und sahen ihm nach. Ohne anzuklopfen, öffnete Stoner die Tür, ging ins Büro und setzte sich in den Sessel vor Ehrhardts Tisch. Lomax war nicht da.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Stoner.
Ehrhardt, der eine sehr helle Haut hatte, errötete leicht, zwang sich zu einem Lächeln und sagte eifrig: »Wie schön von Ihnen, Bill, dass Sie vorbeikommen konnten.« Einen Moment lang hantierte er mit einem Streichholz und versuchte, seine Pfeife anzustecken. Sie wollte nicht ziehen. »Diese verfluchte Luftfeuchtigkeit«, sagte er griesgrämig. »Da bleibt der Tabak zu klamm.«
»Ich nehme mal an, dass Lomax nicht kommen wird«, sagte Stoner.
»Nein, wird er nicht«, sagte Ehrhardt und legte die Pfeife auf den Tisch. »Ehrlich gesagt war es Professor Lomax, der mich gebeten hat, mit Ihnen zu reden, weshalb ich …«, erlachte nervös, »… eigentlich nur so eine Art Botenjunge für ihn bin.«
»Und welche Botschaft sollen Sie mir überbringen?«, fragte Stoner trocken.
»Nun, wenn ich es recht verstehe, hat es einige Beschwerden gegeben. Studenten – Sie wissen ja.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Manche scheinen zu glauben – nun ja, sie begreifen offenbar nicht so ganz, was in Ihrem Seminar um acht Uhr früh vor sich geht. Professor Lomax dachte … also genau genommen, schätze ich, bezweifelt er, dass es sinnvoll ist, sich den Problemen eines Grundkurses über … über das Studium der …«
»Mittelalterlichen Sprache und Literatur zu nähern«, sagte Stoner.
»Genau«, erwiderte Ehrhardt. »Nun, ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen – die Studenten ein wenig schockieren, sie aufrütteln, neue Wege einschlagen, sie zum Nachdenken bringen. Richtig?«
Stoner nickte bedächtig. »In den Fachbereichstreffen zu unseren Erstsemesterkursen hat es in letzter Zeit viel Gerede über neue Methoden und Experimente gegeben.«
»Ganz genau«, sagte Ehrhardt. »Wohl niemand steht Experimenten aufgeschlossener gegenüber als ich selbst, doch – vielleicht gehen wir manchmal ein wenig zu weit, und sei es auch aus den allerbesten Motiven.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wovon ich rede, das gebe ich gern zu. Aber ich – vielmehr Professor Lomax –, nun, vielleicht eine Art Kompromiss, eine teilweise Rückkehr zur Lektüreliste, die Verwendung der vorgegebenen Texte … Sie verstehen?«
Stoner spitzte die Lippen, blickte an die Decke, ließ die Ellbogen auf den Armlehnen des Sessels ruhen, legte dieFingerspitzen aneinander und bettete das Kinn auf die vorgestreckten Daumen. Schließlich sagte er in bestimmtem Ton: »Nein, ich glaube nicht, dass das … Experiment … weit genug gediehen ist. Sagen Sie Lomax bitte, ich beabsichtige, es bis zum Ende des Semesters fortzuführen. Würden Sie das für mich tun?«
Ehrhardts Gesicht lief rot an. »Das werde ich«, brachte er gepresst hervor, »aber ich könnte mir vorstellen, nein, ich bin mir sicher, dass Professor Lomax sehr enttäuscht sein wird. Überaus enttäuscht.«
Stoner erwiderte: »Ach, vielleicht zu Anfang, aber das geht vorüber. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass Professor Lomax einem Seniorprofessor nicht bei der Unterrichtsgestaltung dreinreden möchte. Auch wenn er mit dem Urteil dieses Professors nicht einverstanden ist, wäre es für ihn doch höchst unethisch, wollte er ihm sein eigenes Urteil aufdrängen. Darüber hinaus könnte dies für ihn sogar ein wenig gefährlich werden.
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