Stoner: Roman (German Edition)
behütete Leben eine geradezu heilige Verpflichtung bedeutete. Sie ging auf Privatschulen für Mädchen, wo sie Lesen, Schreiben und einfache Rechenaufgaben zu lösen lernte; und sie wurde in ihrer Freizeit angehalten, Klavier zu spielen, zu sticken, Aquarelle zu malen oder sich über einige der dezenteren Werke der Literatur zu verbreiten. Außerdem erhielt sie Unterricht in Fragen der Mode, in Körperhaltung, Moral und damenhafter Diktion.
Die moralische Erziehung, wie sie Edith sowohl in der Schule als auch daheim erhielt, war dem Wesen nach negativ, im Kern verbietend und nahezu ausschließlich auf das Sexuelle gerichtet. Nur blieb die Sexualität indirekt und uneingestanden, weshalb sie jeden Bereich einer Ausbildung prägte, die ihre Energie größtenteils aus ebendieser verborgenen und unbenannten moralischen Kraft zog. Edith lernte, dass sie Pflichten gegenüber ihrem Gatten und ihrer Familie haben würde, die es zu erfüllen galt.
Selbst in den gewöhnlichsten Augenblicken des Familienlebens verlief ihre Kindheit steif und förmlich. Die Eltern wahrten stets eine distanzierte Höflichkeit; nie erlebte Edith, dass sie einander mit der spontanen Emotion von Ärger oder Liebe begegneten. Ärger bedeutete Tage höflichen Schweigens, Liebe war ein Wort höflicher Zuneigung. Edith blieb ein Einzelkind, und Einsamkeit gehörte zu den frühesten Befindlichkeiten ihres Lebens.
Also wuchs sie mit einem zarten Talent für die vornehmeren Künste auf und besaß keinerlei Kenntnis von den Zwängen des alltäglichen Lebens. Ihre Stickarbeiten waren delikat und nutzlos; sie malte neblige Landschaften in verwaschenen Aquarelltönen, spielte Klavier mit präzisem, doch kraftlosem Anschlag und besaß nicht die geringste Kenntnis ihrer eigenen Körperfunktionen, hatte sie sich doch nie auch nur einen Tag ihres Lebens allein um sich selbst kümmern müssen, noch wäre ihr je in den Sinn gekommen, sie könne einmal für das Wohlergehen eines anderen Menschen verantwortlich sein. Ihr Leben war unveränderlich wie ein tiefer Summton, und dass es so blieb, darüber wachte ihre Mutter, die, als Edith noch ein Kind war, stundenlang und als wäre eine andere Beschäftigung für sie beide gar nichtdenkbar, dabei zusah, wie ihre Tochter Bilder malte oder Klavier spielte.
Im Alter von dreizehn Jahren machte Edith die übliche geschlechtliche Entwicklung durch; allerdings durchlief sie eine körperliche Veränderung, die eher ungewöhnlicher Natur war. Im Laufe nur weniger Monate wuchs sie fast um dreißig Zentimeter, sodass sie beinahe die Größe eines erwachsenen Mannes erreichte. Davon, dass es zwischen ihrem schlaksigen Körper und einer neuen, ungewohnten Sexualität einen Zusammenhang gab, sollte sie sich nie mehr erholen. Zudem vertieften die Veränderungen eine angeborene Schüchternheit – Edith hielt sich von ihren Klassenkameradinnen fern, hatte auch zu Hause niemanden, mit dem sie reden konnte, und kehrte sich mehr und mehr nach innen.
In diese innere Privatsphäre drang nun William Stoner vor. Und etwas Unvermutetes geschah, ein Instinkt regte sich und ließ sie ihn zurückrufen, als er zur Tür ging, ließ sie rasch und so verzweifelt reden, wie sie nie zuvor geredet hatte und nie wieder reden würde.
*
Während der nächsten zwei Wochen sah er Edith fast jeden Abend. Sie gingen gemeinsam zu einem von der neuen Musikfakultät unterstützten Konzert, und an Abenden, an denen es nicht allzu kalt war, spazierten sie gemächlich durch die Straßen von Columbia, meist aber saßen sie in Mrs Darleys Salon. Manchmal unterhielten sie sich, oder Edith spielte ihm etwas vor, und während er zuhörte, beobachtete er, wie ihre Hände matt über die Tasten wanderten. Nach ihremGespräch am ersten Abend blieben die Unterhaltungen seltsam unpersönlich; und es gelang Stoner nicht noch einmal, sie aus der Reserve zu locken; als er merkte, wie peinlich ihr seine Anstrengungen waren, stellte er sie ein. Dennoch gab es zwischen ihnen eine gewisse Leichtigkeit, und er glaubte, sie besäßen eine Übereinkunft. Weniger als eine Woche bevor Edith nach St. Louis zurückkehren sollte, gestand er ihr seine Liebe und machte ihr einen Antrag.
Zwar hatte er keine Vorstellung davon, wie sie seine Erklärung und seinen Antrag aufnehmen würde, doch ihr Gleichmut überraschte ihn. Nachdem er geredet hatte, bedachte sie ihn mit einem langen, zugleich abwägenden und eigenartig kühnen Blick; und er musste an jenen ersten Nachmittag denken, an dem
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