Stoner: Roman (German Edition)
sie rasch ein. »Dann kehre ich zurück nach St. Louis. Für die Weihnachtstage.«
»Das ist wirklich sehr kurz.« Er lächelte und schaute sie verlegen an. »Also muss ich Sie einfach so oft wie möglich sehen, damit wir uns kennenlernen können.«
Beinahe mit Entsetzen blickte sie ihn an. »So habe ich das nicht gemeint«, sagte sie. »Bitte …«
Stoner schwieg einen Moment. »Tut mir leid, ich … Dennoch, ich möchte Sie gern wiedersehen, so oft, wie Sie mögen. Darf ich?«
»Ach«, sagte sie. »Nun ja.« Sie hielt die schlanken Finger im Schoß verschränkt, und die Knöchel waren weiß, wo die Haut sich spannte. Auf den Handrücken zeigten sich helle Sommersprossen.
Stoner sagte: »Ich bin in so etwas nicht besonders gut, oder? Seien Sie nachsichtig mit mir. Jemandem wie Ihnen bin ich noch nie begegnet, und deshalb rede ich dummes Zeug. Bitte verzeihen Sie, falls ich Sie in Verlegenheit gebracht habe.«
»O nein«, erwiderte sie, drehte sich zu ihm um und verzog die Lippen auf eine Weise, die er für ein Lächeln halten musste. »Ganz und gar nicht. Ich finde es wunderbar. Wirklich.«
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, erwähnte das Wetter und entschuldigte sich dafür, Schnee auf den Teppich getragen zu haben; sie murmelte irgendwas. Er erzählte von den Seminaren, die er an der Universität gab, und sie nickte verwirrt. Dann saßen sie stumm da. Stoner stand auf; er bewegte sich so langsam und schwerfällig, als wäre er müde. Edith schaute ausdruckslos zu ihm hoch.
»Nun«, setzte er an und räusperte sich. »Es wird spät, und ich … Hören Sie, es tut mir leid. Darf ich in einigen Tagen wieder vorbeischauen? Vielleicht …«
Es war, als hätte er gar nicht mit ihr geredet. Er nickte, sagte »Gute Nacht« und wandte sich ab, um zu gehen.
Mit hoher, schriller Stimme und im stets gleichbleibenden Ton begann Edith Bostwick daraufhin zu reden: »Als ich ein kleines Mädchen war, gerade sechs Jahre alt, konnte ich schon Klavier spielen, und ich habe gern gemalt und war sehr schüchtern, weshalb meine Mutter mich auf Miss Thorndykes Mädchenschule in St. Louis geschickt hat. Dort war ich die Jüngste, was aber nicht weiter schlimm war, weil mein Daddy im Schulausschuss saß und sich um alles gekümmert hat. Erst gefiel es mir gar nicht in der Schule, aber später habe ich sie geliebt. Die Mädchen waren alle sehr nett und wohlerzogen, und ich fand einige Freundinnen fürs Leben und …«
Stoner hatte sich wieder umgedreht, sobald sie zu reden begann, und betrachtete sie mit einem Erstaunen, das sein Gesicht nicht verriet. Der Blick war starr, die Miene ausdruckslos, und ihre Lippen bewegten sich, als läse sie ihm, ohne ein Wort zu verstehen, aus einem unsichtbaren Buch vor. Langsam ging er durchs Zimmer zu ihr zurück und setzte sich wieder neben sie. Sie schien ihn nicht wahrzunehmen; ihre Augen blieben unverwandt geradeaus gerichtet, und sie fuhr fort, ihm von sich zu erzählen, als hätte er sie darum gebeten. Er wollte ihr sagen, sie solle aufhören, wollte sie trösten, sie berühren, doch tat er nichts und sagte nichts.
Sie redete weiter, und nach einer Weile begann er zu hören, was sie sagte. Erst Jahre später ging ihm auf, dass sie ihm in den anderthalb Stunden jenes Dezemberabends, an dem sie zum ersten Mal längere Zeit miteinander verbrachten, mehr über sich erzählt hatte, als sie es je wiedertun sollte. Kaum war es vorbei, spürte er, dass sie einander auf eine Weise fremd waren, die er nicht erwartet hätte; und er wusste, er hatte sich verliebt.
*
Edith Elaine Bostwick war sich vermutlich gar nicht bewusst, was sie William Stoner an jenem Abend erzählte, und wäre sie es gewesen, hätte sie nicht ahnen können, welche Bedeutung ihre Worte für ihn gewannen. Stoner aber behielt, was sie gesagt hatte, und sollte es nie vergessen; was er hörte, war eine Art Beichte, und was er zu verstehen meinte, war eine Bitte um Hilfe.
Als er sie besser kennenlernte, erfuhr er mehr über ihre Kindheit; und ihm wurde klar, wie typisch sie für ein Mädchen ihrer Zeit und Herkunft gewesen war. Edith wurde in der Annahme erzogen, dass sie behütet bliebe vor den raueren Ereignissen, die das Leben mit sich bringen mochte, wie auch in der Annahme, dass sie keine andere Aufgabe zu erfüllen hätte, als ein so graziöses wie manierliches Accessoire in ebendiesem behüteten Leben zu sein, gehörte sie doch einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schicht an, für die dieses
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