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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Williams
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einem Laken bedeckte Gestalt auf einer Trage die Treppe hinab zum wartenden Krankenwagen gebracht wurde. Später stellte man fest, dass Archer Sloane irgendwann am späten Freitagabend oder frühen Samstagmorgen eines offenkundig natürlichen Todes gestorben war und folglich das ganze Wochenende an seinem Schreibtisch gesessen und endlos vor sich hin gestarrt haben musste. Der Leichenbeschauer nannte als offizielle Todesursache Herzversagen, doch blieb William Stoner davon überzeugt, dass Sloane in einem Augenblick der Verärgerung und Verzweiflung seinHerz willentlich zum Stehen gebracht hatte, gleichsam in einer letzten stummen Geste der Liebe und Verachtung für eine Welt, die ihn so umfassend verraten hatte, dass er es nicht länger ertragen konnte.
    Bei der Beerdigung gehörte Stoner zu den Sargträgern. Während der Andacht konnte er sich nicht auf die Worte des Priesters konzentrieren; außerdem wusste er, wie bedeutungslos sie waren. Und er dachte daran, wie er Sloane zum ersten Mal im Seminarraum gesehen hatte, dachte an ihre frühen Gespräche und an das langsame Dahinsiechen dieses Mannes, der sein entfernter Freund gewesen war. Später, als die Andacht vorüber war und er den grauen Sarg anhob und half, ihn auf den Leichenwagen zu tragen, da schien er ihm so leicht zu sein, dass er kaum glauben konnte, es läge überhaupt etwas in der schmalen Kiste.
    Sloane besaß keine Familie, sodass sich nur Kollegen und einige Stadtleute an der schmalen Grube versammelten, um dem Priester ehrfürchtig, verlegen oder respektvoll zu lauschen. Und da keine Familie und niemand, der ihn liebte, um sein Dahinscheiden trauerte, war es Stoner allein, der weinte, als der Sarg in die Erde gelassen wurde, als könnten seine Tränen die Einsamkeit dieses letzten Augenblicks lindern. Nur wusste er nicht, ob er um sich selbst weinte, um den Teil seiner Geschichte und Jugend, der mit dem Sarg in der Erde versank, oder um die arme, dürre Gestalt, die einmal jener Mann gewesen war, den er verehrt hatte.
    Gordon Finch fuhr ihn zurück in die Stadt, und sie redeten während der Fahrt kaum ein Wort. Erst als sie sich der Stadt näherten, erkundigte sich Gordon nach Edith; William antwortete und fragte nach Caroline. Gordon erwiderte etwas, und dann herrschte erneut Schweigen. Kurz bevor sievor Williams Wohnung hielten, ergriff Gordon Finch noch einmal das Wort.
    »Ich weiß nicht. Während der Andacht musste ich ständig an Masters denken. An Dave, wie er in Frankreich starb, und an den alten Sloane, wie er da tot zwei Tage an seinem Tisch saß; als wären die Tode vergleichbar. Ich habe Sloane nicht besonders gut gekannt, denke aber, er war ein guter Mann, zumindest habe ich das gehört. Und jetzt müssen wir seine Stelle neu besetzen und einen neuen Vorsitzenden für den Fachbereich finden. Es ist, als drehte sich alles im Kreis, drehte und drehte sich immer weiter. Da kommt man schon ins Grübeln.«
    »Ja«, sagte William und verstummte dann wieder. Einen Moment lang aber hatte er Gordon Finch sehr gern; und als er aus dem Wagen stieg und ihm nachsah, wie er davonfuhr, spürte er mit einem Mal deutlich, wie sich ein weiterer Teil von ihm selbst, von seiner Vergangenheit langsam, nahezu unmerklich in die Dunkelheit entfernte.
    *
    Zusätzlich zu seinen Pflichten als stellvertretender Dekan betraute man Gordon Finch mit dem Interimsvorsitz des englischen Fachbereichs, und es gehörte zu seinen unmittelbar anstehenden Aufgaben, einen Ersatz für Archer Sloane zu finden.
    Erst im Juli konnte die Angelegenheit geregelt werden. Dann rief Finch jene Fakultätsmitglieder zusammen, die über den Sommer in Columbia geblieben waren, um ihnen mitzuteilen, wer die Stelle bekommen sollte. Hollis N. Lomax, erzählte Finch der kleinen Gruppe, sei ein Spezialistfür das 19. Jahrhundert, der erst kürzlich seinen Doktor an der Universität Harvard gemacht, aber bereits mehrere Jahre an einem kleinen New Yorker geisteswissenschaftlichen College gelehrt habe. Er komme mit den besten Empfehlungen, habe bereits zu publizieren begonnen und werde als Assistenzprofessor eingestellt. Was den Vorsitz des Fachbereichs angehe, so gebe es keine unmittelbaren Pläne, betonte Finch; er werde noch für mindestens ein weiteres Jahr den Interimsvorsitz behalten.
    Für den Rest des Sommers blieb Lomax eine mysteriöse Gestalt und das Objekt mancher Spekulationen seitens der fest angestellten Mitglieder des Fachbereichs. Die Artikel, die er in diversen Zeitschriften

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