Stoner: Roman (German Edition)
nicht länger ertrug, und er gewann den Eindruck, sie empfinde selbst die Blicke, mit denen er sie betrachtete, als eine Art Vergewaltigung. Die Intensität ihrer Leidenschaft verblasste zur Erinnerung, bis sie für Stoner schließlich zu einer Art Traum wurde, der mit ihnen beiden eigentlich nicht das Geringste zu schaffen hatte.
So wurde das Bett, die Arena ihrer Leidenschaft, für Edith zum Hort ihrer Krankheit. Fast den ganzen Tag blieb sie liegen, stand nur in der Frühe auf, weil ihr übel wurde; und am Nachmittag ging sie mit unsicherem Schritt für einige Minuten ins Wohnzimmer. Sobald William von der Arbeit an der Universität zurückgeeilt war, putzte er nachmittags oder abends die Zimmer, machte den Abwasch, bereitete das Essen zu und trug es Edith auf einem Tablett ans Bett. Sie wollte nicht, dass er mit ihr aß, doch schien es ihr zu gefallen, anschließend eine Tasse dünnen Tee mit ihm zu trinken. Am Abend dann unterhielten sie sich leise und beiläufig eine Weile, als wären sie alte Freunde oder erschöpfte Feinde. Kurz darauf schlief Edith meist ein, und William ging zurück in die Küche, erledigte die restliche Hausarbeit und schob sich einen Tisch ans Wohnzimmersofa, um Seminararbeiten durchzusehen oder Vorlesungen vorzubereiten. Nach Mitternacht nahm er die Decke, die er ordentlich gefaltet hinter dem Sofa aufbewahrte, rollte sich zusammen, deckte sich zu und schlief unruhig bis zum Morgen.
*
Das Kind, ein Mädchen, wurde Mitte März des Jahres 1923 nach drei Tagen Wehen geboren. Sie nannten es Grace nach einer von Ediths Tanten, die viele Jahre zuvor gestorben war.
Schon bei der Geburt war Grace ein schönes Kind mit klaren Gesichtszügen und einem leichten, goldenen Haarflaum. Bereits nach wenigen Tagen wandelte sich die anfangs gerötete Haut zu hell schimmerndem Rosa. Grace weinte nur selten und schien sich ihrer Umgebung fast bewusst zu sein. William verliebte sich auf der Stelle, und die Zuneigung, die er Edith nicht zeigen konnte, bewies er nun seiner Tochter. Sich um sie zu kümmern bereitete ihm ein Vergnügen, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Bis etwa ein Jahr nach Grace’ Geburt blieb Edith teilweise bettlägerig, und man fürchtete, sie könne auf Dauer zur Invalidin werden, obwohl der Arzt keinen spezifischen Grund dafür finden konnte. William stellte eine Frau ein, die vormittags kam und sich um Edith kümmerte; außerdem legte er seine Seminare so, dass er früh am Nachmittag wieder zu Hause sein konnte.
Auf diese Weise erledigte William über ein Jahr lang die Hausarbeit und versorgte zwei hilflose Menschen. Vor dem Morgengrauen stand er auf, benotete Seminararbeiten, ging seine Vorlesungen durch, fütterte Grace, und ehe er zur Universität eilte, machte er Edith und sich Frühstück und bereitete sich einen Lunch vor, den er in der Aktenmappe mitnahm. Nach dem Unterricht kehrte er in die Wohnung zurück, putzte, fegte und wischte Staub.
Seiner Tochter war er eher Mutter als Vater, wechselte ihre Windeln und wusch sie, wählte ihre Kleider aus, die er, falls nötig, auch stopfte, er fütterte Grace, badete sie und wiegte sie in den Armen, wenn sie Kummer hatte. Hin und wieder rief Edith in quengeligem Ton nach ihrem Baby, und dann brachte William die Kleine zu ihrer Mutter, die aufgestützt im Bett saß und Grace einige Augenblicke langhielt, so still und unbehaglich, als gehörte das Kind einer Fremden. Schon bald ermüdete sie und reichte William mit einem Seufzer das Baby zurück. Von dunklen Gefühlen aufgewühlt, weinte sie dann ein wenig, wischte sich die Augen und wandte sich anschließend von Mann und Kind ab.
So kannte Grace Stoner im ersten Jahr ihres Lebens nur die Zärtlichkeit ihres Vaters, seine Stimme und seine Liebe.
VI
ZU SOMMERBEGINN DES JAHRES 1924 wurde Archer Sloane von mehreren Studenten gesehen, wie er an einem Freitagnachmittag in sein Büro ging. Am darauffolgenden Montag entdeckte ihn der Hausmeister kurz nach dem Morgengrauen, als er seine Runde durch die Büros von Jesse Hall machte, um die Papierkörbe zu leeren. Sloane saß zusammengesunken auf dem Stuhl an seinem Schreibtisch, der Kopf seltsam schief, die Augen offen und in schrecklichem Blick erstarrt. Der Hausmeister sprach den Professor an und lief gleich darauf schreiend durch die leeren Korridore. Ehe man die Leiche aus dem Büro entfernen konnte, kam es zu einiger Verzögerung, weshalb sich bereits mehrere Studenten auf den Fluren herumtrieben, als die seltsam gekrümmte, mit
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