Stoner: Roman (German Edition)
über ihre Haut glitt. Also knöpfte sie den steifen grauen Taftmorgenmantel auf, ließ ihn zu Boden fallen, kreuzte die Arme vor der Brust, umarmte sich und knetete durch das dünne Flanellnachthemd die Haut ihrer Oberarme. Wieder blieb sie stehen, um dann zielstrebig ins winzige Schlafzimmer zu gehen und die Schranktür zu öffnen, an deren Innenseite ein großer Spiegel hing. Sie richtete den Spiegel nach dem Licht aus, trat einen Schritt zurück und musterte ihre lange, schlanke Gestalt in dem glatten blauen Nachthemd. Ohne den Blick vom Spiegel zu wenden, knöpfte sie ihr Nachthemd auf und zog es über den Kopf, sodass sie nun nackt im Morgenlicht stand. Dann ballte sie das Hemd zusammen und warf es in den Schrank. Sie drehte sich vor dem Spiegel und inspizierte ihren Körper, als wäre er ihr fremd, strich sich über die kleinen, leicht hängenden Brüste und ließ die Hände sanft über die schlanke Taille und den flachen Bauch hinabwandern.
Sie wandte sich vom Spiegel ab, ging zum immer noch ungemachten Bett, nahm die Decke ab, faltete sie achtlos und legte sie in den Schrank. Dann glättete sie das Laken und legte sich auf den Rücken, die Beine langgestreckt, dieArme an den Seiten. Reglos und ohne zu blinzeln blickte sie zur Zimmerdecke auf und wartete den ganzen Morgen und auch den langen Nachmittag.
Als William Stoner an diesem Abend nach Hause kam, war es fast dunkel, doch fiel kein Licht aus den Fenstern im ersten Stock. Ein wenig besorgt ging er die Treppe hoch und knipste die Wohnzimmerleuchte an. Der Raum war leer. Er rief: »Edith?«
Keine Antwort. Er rief noch einmal.
Er schaute in die Küche; das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem winzigen Tisch. Rasch ging er durchs Wohnzimmer und öffnete die Tür zum Schlafzimmer.
Edith lag nackt auf dem kahlen Bett. Als die Tür aufging und Licht vom Wohnzimmer auf sie fiel, wandte sie den Kopf nach ihm, stand aber nicht auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, und leise Laute drangen aus dem geöffneten Mund.
»Edith!«, rief er und ging zu ihr, kniete sich neben sie. »Was ist los? Alles in Ordnung?«
Sie gab keine Antwort, aber die Laute aus ihrem Mund wurden heftiger, der Körper an seiner Seite regte sich. Plötzlich fuhren ihre Hände wie Klauen auf ihn zu, sodass er fast zurückgeschreckt wäre, aber sie suchten nur seine Kleider, griffen danach, zerrten daran und zogen ihn neben sich aufs Bett. Ihr Mund kam ihm entgegen, heiß und offen; ihre Hände wanderten über ihn hinweg, zogen an seinen Sachen, suchten ihn, und während der ganzen Zeit blieb ihr Blick starr, und die Augen waren weit geöffnet, als gehörten sie jemand anderem und sähen nichts.
*
Es war eine neue Seite, die er an Edith kennenlernte, dieses Verlangen, das sie so heftig wie nagender Hunger überfiel und nichts mit ihr selbst zu tun zu haben schien; und kaum war es befriedigt, begann es sich erneut zu regen, sodass sie beide in der angespannten Erwartung seiner Wiederkehr lebten.
Obwohl die nächsten zwei Monate für William und Edith Stoner die einzige Zeit der Leidenschaft füreinander sein sollte, änderte sich ihre Beziehung eigentlich kaum. Schon bald begriff Stoner, dass die Macht, die ihre Körper zueinander zog, nur wenig mit Liebe zu tun hatte; sie paarten sich mit wilder, aber teilnahmsloser Entschlossenheit, trennten sich und paarten sich erneut, ohne dass sie die Kraft besessen hätten, diesem Bedürfnis widerstehen zu können.
Tagsüber, während sich William an der Universität aufhielt, packte Edith die Gier manchmal so heftig, dass sie nicht untätig bleiben konnte; dann verließ sie die Wohnung und ging rasch die Straßen auf und ab oder lief ziellos umher. Wenn sie zurückkehrte, zog sie die Vorhänge zu, entkleidete sich und wartete, im Halbdunkel zusammengerollt, auf Williams Rückkehr. Sobald er die Tür öffnete, fiel sie über ihn her, die Hände, wild und fordernd, als verfügten sie über ein Eigenleben, zogen ihn ins Schlafzimmer und aufs Bett, das noch zerwühlt war von der Nacht oder vom Vormittag.
Im Juni wurde Edith schwanger und begann fast sofort, an einer Unpässlichkeit zu leiden, von der sie sich während der gesamten Schwangerschaft nicht mehr recht erholen sollte. Noch im selben Moment, in dem sie schwanger wurde, und ehe dies von Arzt oder Kalender bestätigt wurde, hörte das Verlangen nach William auf, das fast zwei Monate in ihr gewütet hatte. Sie gab ihrem Mann zu verstehen, dass sie dieBerührung seiner Hände
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