Stoner: Roman (German Edition)
veröffentlicht hatte, wurden ausgegraben und mit anerkennendem Nicken herumgereicht. Lomax tauchte während der Erstsemesterwoche nicht auf und kam am Freitag auch nicht zur allgemeinen Fachbereichssitzung vor der Einschreibung der Studenten am Montag. Und während die Fachbereichsmitglieder bei der Einschreibung in einer langen Reihe am Tisch saßen und gelangweilt den Studenten bei der Wahl ihrer Seminare oder der trostlosen Routine des Ausfüllens diverser Formulare halfen, sahen sie sich wiederholt nach einem neuen Gesicht um. Lomax aber ließ sich immer noch nicht blicken.
Erst nach Abschluss der Einschreibung bekamen sie ihn auf einer Fachbereichssitzung am späten Dienstagnachmittag zu sehen. Betäubt von der Monotonie der letzten beiden Tage und doch angespannt von jener Aufregung, die stets mit dem Beginn eines neuen akademischen Jahres einhergeht, hatte der englische Fachbereich Lomax schon fast vergessen. Man fläzte sich auf Schreibtischstühlen im großen Vorlesungssaal des Ostflügels von Jesse Hall und blickte soverächtlich wie erwartungsvoll zum Podium hinüber, auf dem Gordon Finch stand und Wohlwollen verströmte. Ein leises Stimmengewirr erfüllte den Raum; Stuhlbeine scharrten über den Boden, und gelegentlich lachte jemand rau und viel zu laut. Gordon Finch hob die rechte Hand und hielt sie mit der Innenfläche dem Publikum entgegen; der Lärm legte sich ein wenig.
Jedenfalls wurde es so leise, dass alle im Saal hören konnten, wie hinten knarrend die Tür aufging und sich jemand mit auffälligem, langsamem Schlurfschritt über den nackten Holzboden näherte. Man wandte sich um; und das allgemeine Murmeln erstarb. Jemand flüsterte: »Das ist Lomax.« Die Worte waren im ganzen Raum deutlich zu verstehen.
Er war durch die Tür getreten, hatte sie geschlossen, war einige Schritte über die Schwelle hinaus in den Saal gegangen und blieb nun stehen. Er maß kaum eins fünfzig und war auf groteske Weise missgestaltet. Ein kleiner Buckel zog die linke Schulter bis zum Hals hoch; der linke Arm hing schlaff herab. Der Oberkörper war massig und eigenartig schief, weshalb er stets ums Gleichgewicht zu kämpfen schien; die Beine waren dünn, das steife rechte Bein zog er nach. Mehrere Augenblicke stand er da und hielt den blonden Kopf gesenkt, als inspizierte er die scharfe Bügelfalte seiner schwarzen Hose und die aufpolierten schwarzen Schuhe. Dann hob er den Kopf und riss in einer plötzlichen Bewegung den rechten Arm hoch, sodass die steife, weiße Manschette mit goldenem Manschettenknopf zu sehen war; in den langen, fahlen Fingern hielt er eine Zigarette. Er nahm einen tiefen Zug, inhalierte und blies den Rauch in dünnem Strom wieder aus. Erst dann konnte man sein Gesicht sehen.
Es war das Gesicht eines Leinwandhelden, lang, hager,lebhaft und stark ausgeprägt, die Stirn hoch und schmal mit vortretenden Adern, dazu dichtes, wallendes Haar von der Farbe reifen Weizens, in einer leicht theatralischen Tolle nach hinten gekämmt. Er ließ die Zigarette auf den Boden fallen, trat sie aus und sagte: »Ich bin Lomax.« Dann schwieg er, die Stimme tief und voll, die Worte präzise, mit dramatischer Resonanz artikuliert. »Ich hoffe, ich störe Ihre Zusammenkunft nicht.«
Die Sitzung nahm weiter ihren Lauf, doch achtete niemand mehr auf das, was Gordon Finch zu sagen hatte. Lomax saß allein hinten im Saal, rauchte, starrte an die Decke und schien nicht zu merken, dass sich dann und wann jemand nach ihm umwandte und ihn anstarrte. Als die Sitzung vorbei war, blieb er auf seinem Stuhl sitzen und ließ die Kollegen kommen, auf dass sie sich vorstellten und sagten, was sie zu sagen hatten. Er begrüßte jeden mit wenigen Worten und einer Höflichkeit, die eigenartig spöttisch wirkte.
Während der nächsten Wochen wurde deutlich, dass Lomax nicht vorhatte, sich den sozialen, kulturellen und akademischen Gepflogenheiten von Columbia, Missouri, anzupassen. Zwar blieb er seinen Kollegen gegenüber auf ironische Weise nett, doch nahm er keine Einladung an und sprach auch keine aus; selbst am alljährlichen Tag des offenen Hauses ging er nicht zu Dean Claremont, obwohl dieses Ereignis als so traditionell galt, dass der Besuch fast obligatorisch war. Lomax wurde auf keinem Universitätskonzert gesehen und auch bei keiner Vorlesung; es hieß, sein Unterricht sei lebhaft, sein Verhalten im Seminar exzentrisch. Er war ein beliebter Dozent; außerhalb der Seminarzeiten scharten sich die Studenten um seinen Tisch,
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